TOPOLOGIK.net   ISSN 1828-5929      2008, nº 3


Schulsystem und betriebswirtschaftliche Logik:

ein Widerspruch?*

* Nach einem Vortrag an der Pädagogischen Hochschule Zürich am 19. April 2007

 

Jörg Ruhloff

1. Ein Spannungsverhältnis zwischen dem Schulsystem und generell zwischen pädagogischen Bestrebungen einerseits und der Ausrichtung am wirtschaftlichen Nutzen andererseits hat eine lange Tradition. Das moderne staatliche Pflichtschulsystem geht auf die Aufklärungsepoche zurück, in der auch die wissenschaftliche Ökonomie entstand. Am Ende dieser Epoche, vor rund 200 Jahren, scheiterte in Preußen der Versuch, Schulen und Universitäten an die Idee der „Bildung der Nation“ zu binden und diesem Gedanken gegen den Geist der Nützlichkeit einen unabhängigen politischen Rang zu verschaffen. Wilhelm von Humboldt trat darum von seinem Amt zurück.1 Schon lange vor der Entstehung eines staatlichen Pflichtschulsystems war der Pädagogik ein Misstrauen gegen die Verbindung mit wirtschaftlichem Gewinnstreben ins Stammbuch geschrieben worden. Als im fünften vorchristlichen Jahrhundert im griechischen Sprachraum zum ersten Mal Männer, die sogenannten Sophisten, auftraten, die die Vermittlung höherer Formen von Wissen und Tüchtigkeit zu ihrem Gewerbe machten, fanden sie zwar einerseits starken Zulauf. Andererseits erregten sie jedoch auch äußerstes Befremden und stießen auf schroffe Ablehnung. Platon trug mit seiner Polemik gegen die Sophisten, die sich an ihrer Erwerbstätigkeit entzündete, wirkmächtig dazu bei, dass die Verknüpfung von Pädagogik mit wirtschaftlichen Absichten in ein ähnlich schlechtes Licht geriet wie käufliche Liebe oder käufliches Recht. Geld zu verlangen für die Beratung, wie „jemand möglichst gut werden könnte und sein Hauswesen oder seine Stadt gut verwalten“ könnte, sei als „schändlich“ anzusehen. So lässt Platon seinen Sokrates gegen einen Sophisten feststellen.2

Es wäre zu einfach, dieser Meinung bloß den naiven oder verlogenen Idealismus dessen zu unterstellen, der sich seinerseits um sein Auskommen keine Sorgen zu machen braucht. Dass auch Pädagogen wirtschaftlich versorgt werden müssen, dürfte Platon ebenso klar gewesen sein wie denen, die gleich ihm von den neuen freiberuflichen Lehrern befremdet waren. Der Makel, den er der Koppelung von Belehrung mit wirtschaftlichem Gewinnstreben nachsagt, dürfte in der Überzeugung wurzeln, dass pädagogische Intentionen gleichsam von Haus aus einen anderen Sinn haben, einem anderen Gedankengang, einer anderen Logik verpflichtet sind als ökonomische. Es ist, so lässt sich diese Überzeugung pointieren, ein Irrtum, es ist eine Verwirrung im Denken, pädagogische Intentionen an ökonomische Zwecke zu binden oder in ihrer Qualität an wirtschaftlichen Kriterien zu messen. Das Interesse an Bildung und das ökonomische Interesse weisen in verschiedene Richtungen. Zugleich bekundet Platons schroffe Zurückweisung ökonomischer Interessen deren mächtige Verführungskraft, die anscheinend nicht ohne weiteres allein durch Einsicht unter Kontrolle gebracht werden kann. Die Lenker, Wächter und Lehrer in seinem Staatsentwurf dürfen mit Gold und Silber nicht in Berührung kommen, um den Zusammenhalt des Gemeinwesens nicht zu gefährden.3

In unserer Gegenwart halten viele eine derartige Gegenüberstellung von Pädagogik und Wirtschaft für verfehlt, wenn nicht für absurd. Wirtschaft und Wissenschaft im allgemeinen sowie Erziehungswissenschaft im besonderen, aber auch die praktische Pädagogik und deren Institutionen, verfolgen, so kann man lesen, letztlich „deckungsgleiche Interessen“ an Effizienz4. Hochrangige politische Amtsträger haben zum Beispiel keine Bedenken, von den Studierenden ihres Landes als von ihren „Kunden“ zu sprechen.5 Auf gleichartiger Linie liegt es, wenn das für die Schulen zuständige Ministerium Nordrhein-Westfalens bereits vor vielen Jahren eine Privatfirma für Unternehmensberatung mit einer groß angelegten Organisationsuntersuchung betraut hat, um Reformvorschläge zu unterbreiten.6 Ein solcher Vorgang drückt offensichtlich aus, dass die öffentliche Schule zu ihrem Vorteil betriebswirtschaftlichen Kriterien unterworfen werden muss. Umgekehrt widmen sich internationale Organisationen zur Beförderung der Weltwirtschaft, wie die Weltbank oder die OECD, der Verbesserung der nationalen Bildungssysteme und nehmen maßgeblichen Einfluss auf deren gegenwärtige Reorganisation. Neuerdings drängen Unternehmer-Vereinigungen in Übereinstimmung mit namhaften Fachleuten der Erziehungswissenschaft auf Reformen der öffentlichen Schulen in einem Sinne, der nicht von vornherein als ein einseitiges ökonomisches Vorteilsstreben beiseite zu schieben ist. So sieht es wenigstens aus, wenn, wie kürzlich geschehen, die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft ein umfangreiches Gutachten von Erziehungswissenschaftlern vorlegt, in dem „Bildungsgerechtigkeit“ angemahnt und der Finger insbesondere auf die ungleiche soziale Verteilung der Chancen zur Bildungsbeteiligung und zum Bildungserfolg gelegt wird.7 Dass daran auch ein ökonomisches Interesse besteht, wird nicht verschwiegen. Es geht, so heißt es, um das „Potenzial der zukünftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, in dem die „größten Produktivitäts- und Innovationsreserven“ des Landes lägen (S. 9). Die „Herstellung von Bildungsgerechtigkeit“ hat also zugegebenermaßen durchaus einen „wirtschaftlichen Nutzen“ (S. 114). Aber Gerechtigkeit ist ihrerseits kein exklusiv ökonomisches Problem. Der ökonomisch motivierte Einsatz für Bildungsgerechtigkeit enthält insofern einen Überschuss, der auf die widerspruchsfreie Konvergenz wirtschaftlicher und pädagogischer Ziele zu verweisen scheint. Forderte Platon um der Gerechtigkeit willen die strikte Trennung ökonomischer von pädagogischen Funktionen, so soll Gerechtigkeit heute aus deren Zusammenführung hervorgehen. Das alteuropäische Misstrauen gegen eine Vereinbarkeit von pädagogischen und von wirtschaftlichen Zielsetzungen scheint überholt zu sein.

2. Die gegenwärtigen internationalen Reformen der Schule und darüber hinaus des gesamten Bildungswesens haben den pädagogischen und bildungspolitischen Diskurs mit einem für ihn neuartigen Vokabular durchsetzt, das aus dem Gebiet der Ökonomie stammt, vor allem aus dem Umkreis der Betriebswirtschaft und der Managementtheorie als deren Teil. Dieses Vokabular transportiert Deutungs- und insbesondere Rationalisierungsmuster, die die Schule als Institution und das Handeln und Geschehen in ihr Wirtschaftsbetrieben anähneln. Die Anähnelung kann etwa folgendermaßen beschrieben werden:

Schulen sind Dienstleistungsbetriebe. Sie produzieren Kompetenzen.8 Kompetenzen sind personengebundene „Leistungsdispositionen“9 für die Problemlösung in bestimmten Inhalts- und Erfahrungsbereichen, die in der Schule hauptsächlich „durch Fächer repräsentiert sind“ (S. 135). Kompetenzen umreißen „Persönlichkeitsmerkmale“, und zwar insbesondere „Qualifikationen, Wissensstrukturen, Einstellungen, Überzeugungen [und] Werthaltungen“ für bereichsspezifische „Handlungsanforderungen“ (S. 22). Sie werden an Schulen in Lernprozessen unter systematischer Anleitung erworben. Kompetenzen lassen sich modellieren, graduieren und messen, so dass die in individuellen Lernprozessen tatsächlich erworbenen Fähigkeiten auf einem Vergleichsraster abgebildet und die betriebsmäßig organisierten pädagogischen Funktionen darauf ausgerichtet werden können. Diesem Zweck dient die Einführung von Normen in Gestalt von nationalen und internationalen Leistungs- bzw. Bildungsstandards. Der Grad der Standarderfüllung eröffnet den Qualitätsvergleich und den Qualitätswettbewerb zwischen einzelnen Schulbetrieben und Schulsystemen. Zugleich fixieren die Kompetenzstandards Bezugsgrößen, auf die hin die Organisationsstruktur, der Produktionsprozess und die an ihm beteiligten Produktionsfaktoren durchmustert, analysiert, gemessen, bewertet, kontrolliert und gesteuert werden können. Leistungsbestimmende Bedingungen, wie z. B. die professionellen Qualifikationen von Lehrerinnen und Lehrern oder die Ausstattung von Schulen, werden ihrerseits standardisiert. Das ermöglicht insgesamt die Rationalisierung des Schulbetriebs durch planvoll gesteuerte und optimal effiziente Betriebsstrukturen, Betriebsabläufe und markt- beziehungsweise wettbewerbsfähige Betriebsergebnisse.

Wenn diese grobe Umschreibung der Betriebskonkordanz von Schule in der Gegenwart einigermaßen realistisch und plausibel erscheint, so wird man doch wichtige Elemente vermissen, die zu einem Wirtschaftsbetrieb gehören. Die Einzelschule im staatlichen Pflichtschulsystem darf nur im Rahmen von Gemeinnützigkeit ein Gewinnstreben entfalten. Zwar wird ihr im Zuge einer relativen Autonomie das Recht zugestanden, durch den Wettbewerb um Ressourcen aus öffentlichen Entwicklungsfonds, durch Einwerbung von Sponsoren-Zuschüssen und sogar durch den „Verkauf pädagogischer Leistungen auf dem Bildungsmarkt“10 zusätzliche Betriebsmittel über die staatliche Grundausstattung hinaus zu erschließen. Aber diese Lockerung der Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung macht Schulen nicht schon zu unabhängigen Erwerbsbetrieben. Die Lockerung ist, wie ihre Inauguratoren sagen, eher geeignet, auch in öffentlich getragenen Schulen „ein Finanzierungs- und Kostenbewusstsein“ entstehen zu lassen11. Damit wird die grundsätzliche Bindung des Schulsystems an ökonomische Determinanten unterstrichen. Möglicherweise soll damit überdies eine zunehmende Akzeptanz für eine erwerbsbetriebliche Auffassung von Schule begünstigt werden. Derartige Neuerungen sind jedoch noch weit entfernt davon, den Pflichtschulen das Risiko aufzubürden, ihre Betriebsexistenz aus selbst erwirtschafteten Gewinnen zu gewährleisten, während für Universitäten inzwischen bereits erwogen wird, dass sie auch in Konkurs gehen können.12

Ein anderer Aspekt, der einer uneingeschränkten Übereinstimmung von öffentlichen Pflichtschulen und erwerbswirtschaftlichen Betrieben entgegensteht, betrifft die Orientierung am Markt. Bei vorbehaltsloser Marktorientierung müsste das, was an den Schulen hervorgebracht wird, unmittelbar aus einem Wechselspiel von Nachfrage und Angebot hervorgehen und über den Preis reguliert werden. Die „Zieldefinition“ der schulischen Dienstleistungen müsste „sich im Marktprozeß selbst ergeben“, wie ein Kritiker der mangelhaften Marktorientierung des gegenwärtigen Schulsystems festgestellt hat.13 Die einzelnen Abnehmer der Leistung müssten durch ihre Kaufentscheidungen direkten Einfluss auf die Gestalt des Produktes nehmen und beispielsweise so wie die Käufer von Kraftfahrzeugen dafür sorgen können, dass ein aus irgendwelchen subjektiven Gründen missliebiges Automodell vom Markt verschwindet. Eine derartige Marktorientierung ist für öffentliche Pflichtschulen der Gegenwart offensichtlich nicht gegeben. Ihre Programme beruhen auf kollektiv bindenden und langfristig festlegenden politischen Entscheidungen. In sie gehen neben anderen auch Interessen der privaten Erwerbswirtschaft und in der Gegenwart – nach den politische Bekundungen zu urteilen - zunehmend globalökonomische Gesichtspunkte der Standortsicherung im internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb ein. Insofern könnte man von einer bedingten und mittelbaren Marktorientierung sprechen. Aber die Leistungsverpflichtung auch des betriebswirtschaftlich reorganisierten staatlichen Schulsystems der Gegenwart ist nicht unmittelbar von privatwirtschaftlichem Gewinnstreben abhängig und nicht an eine bedingungslos erwerbsbetriebliche Schulstruktur gekoppelt. Aus der Perspektive vollständiger Marktorientierung wird ihr darum vorgeworfen, „dass eine Einführung von Managementmethoden“ und von anderen Elementen betriebswirtschaftlicher Unternehmensführung in das Pflichtschulsystem in der Art, wie sie bislang stattfindet, „die versprochenen positiven Wirkungen nicht zeitigen kann“, solange „für die Schule nicht-marktliche Bedingungen gelten“14. In Wirklichkeit bleibe die gegenwärtige Umstrukturierung des Schulwesens nach betriebswirtschaftlichen Methoden bloß in einem neuen „Modell der staatlichen Steuerung“ von Schule stecken15. Aus dieser Sicht ergibt sich eine Widersprüchlichkeit daraus, dass die betriebswirtschaftliche Logik im gegenwärtigen Schulsystem gleichsam von ihrer Wurzel abgeschnitten und an ihrer uneingeschränkten Wirksamkeit gehindert wird. Nicht aber wird eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen schulischen und betriebwirtschaftlichen Intentionen angenommen.

3. Aus einer anderen Perspektive gehen die Steuerungsmotive, von denen die gegenwärtigen Veränderungen des „europäischen Bildungsraums“ gelenkt werden und die dem unternehmerischen bzw. dem betriebswirtschaftlichen Denkmuster zugeordnet werden können, bereits viel zu weit. In ihrer Konsequenz zerreißen sie das ursprüngliche soziale Band, vernichten die edukative Verpflichtung und damit auch so etwas wie eine pädagogische Eigensubstanz von öffentlichen Schulen.16 Die betriebswirtschaftliche Logik, so etwa wird hier argumentiert, ist dabei, schulisches Lernen und Lehren total umzuformen und gewissermaßen in sich aufzusaugen. Aber diese sich anbahnende Wirklichkeit ist nicht vernünftig. Sie ergibt sich nicht aus einer zwanglosen Konvergenz von pädagogischer und betriebwirtschaftlicher Rationalität. Statt dessen entspringt sie der Immunisierung der neuen „unternehmerischen“ Schule gegen das Gewahrwerden von pädagogischen Pflichten und Lasten, also einer verhängnisvollen Verabschiedung beziehungsweise der schleichenden Überwältigung einer pädagogischen Eigenlogik.17 Ein Widerspruch kann sich danach gar nicht mehr ergeben, weil der unabhängige Opponent aus dem Felde geräumt worden ist.

Dieses Resultat wird – nach Masschelein und Simons - in gedrängter Form durch die folgende Argumentation plausibel gemacht: Die Richtung der eingeleiteten Veränderungen des europäischen Bildungsraums läuft darauf hinaus, lernende Gesellschaften zu schaffen, die sich insgesamt und in jedem ihrer Mitglieder auf „arbeitsmarktbezogene Qualifizierung“ für den internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb einstellen und in diesem Sinne fortlaufend sich umzustellen bereit sind.18 In der Konsequenz dieser Richtung liegt es, dass wir den Menschen und das heißt, dass wir uns alle von Grund auf als Kapital deuten. Das Humankapital, das wir sind, hat die Eigenschaft, sich unternehmerisch zu sich selbst und zu anderen zu verhalten. Jeder Mensch ist von Haus aus eine Art individueller Wirtschaftsbetrieb. Sein unternehmerischer Grundcharakter ist entwicklungsfähig. Durch das Lernen und durch das Lernen des Lernens pflegt und mehrt ein jeder seinen Kapitalwert. Schulen und überhaupt das Bildungswesen stellen dafür geeignete Lernumgebungen bereit. Bestimmte Techniken der Kompetenzproduktion, wie zum Beispiel terminierte Lernvereinbarungen, sorgen für eine präzise und transparente Kalkulation von Lernaufwand und Lernertrag. Techniken der Fremd- und Selbstevaluation beziehungsweise von deren Darstellung, etwa die Führung individueller Lernportfolios, sozusagen eines persönlichen Bildungssteckbriefs, informieren mitlaufend über Stärken und Schwächen der persönlichen Unternehmensentwicklung. Sie erlauben die Beratung darüber, „wo Wachstumschancen liegen und wie Optimierung“ unter Ausschöpfung des jeweiligen individuellen Potenzials „möglich ist“19. Zunehmend wird das „unternehmerische Subjekt“ lernen, sich selbst zu managen und dementsprechend auch seine Beziehungen zu den anderen Kompetenzanbietern zu kalkulieren und zu regulieren. Es wird ihm bewusst werden, wann und inwiefern es opportun ist, in die soziale Verflechtung seines eigenen Humankapitals etwa durch freiwillige Lernleistungen zu investieren, Beziehungen aufzubauen, und unter welchen Bedingungen das Konto der sozialen Verbindlichkeiten unternehmens-bedrohlich in die roten Zahlen rutscht. Die Umstellung des Schulsystems auf Kompetenzproduktion ist nach dieser Sicht nicht die Ursache eines betriebswirtschaftlichen Organisationsverständnisses, sondern die Folge einer bereits zuvor etablierten, geschichtlich seit langem angebahnten unternehmerischen Grundeinstellung. „Kompetenz“ ist der Begriff für die Schnittstelle, über die das individuelle Unternehmertum in das Netzwerk des kapitalisierten Zusammenlebens eingeschleust wird.20

Derartige Überlegungen als alltagsferne Spekulationen, denen keine Realitäten korrespondieren, abzuweisen, scheint mir nicht leicht möglich zu sein. Verbreitete Erscheinungen wie die, dass Schülerinnen und Schüler ihre Lernbereitschaft von der Frage abhängig machen, was ihnen dieser oder jener Arbeitseinsatz „bringe“, oder das Phänomen, dass die moderne Schule Wahlalternativen anbietet und eine übergreifende Punktewährung für die Abrechnung inhaltlich höchst verschiedenartiger Leistungen eingeführt hat, können als Indizien für die Wirklichkeit der skizzierten Tendenz gedeutet werden.21 Als relativ neu können die planvolle Mobilisierung und die systematische Forcierung eines unternehmerischen Selbstverständnisses sowie eine verbreitete bildungspolitische Bejahung darauf abgestimmter Schulverhältnisse angesehen werden.

4. In einer rein formalen Betrachtung kann es so erscheinen, dass das betriebswirtschaftliche Denkmuster und die pädagogische Aufgabenstellung von Schule gegeneinander neutral sind. Ökonomische Gesichtspunkte scheinen sich an alle möglichen Hervorbringungen anschmiegen zu können, von der Nahrungsmittelproduktion bis hin zu Dienstleistungen, die die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Nobelpreisträgern steigern. Die inhaltliche Eigenart eines Bedürfnisses sowie die auf dessen Befriedigung bezogene, sachlich bestimmte Arbeit auf der einen Seite und eine betriebsökonomische Arbeitsorganisation andererseits sind einander nicht von Grund auf entgegengesetzt. Eine betriebswirtschaftlich durchdachte Organisation kann dazu beitragen, dass dieselbe Sache mit geringerem Aufwand hervorgebracht wird. Die Frage muss dann lauten, unter welchen Bedingungen es trotzdem zu einem Konflikt kommen kann.

Das ist offenbar dann der Fall, wenn die ökonomische Rationalität nicht mehr bloß an von ihr zunächst unabhängigen sachlichen Erfordernissen Maß nimmt, sondern die sachbezogene Arbeit und vielleicht auch die zugrunde liegenden Bedürfnisse in ihrem eigenen Sinne umformt, wenn also das Produkt infolge betriebwirtschaftlicher Eingriffe zwar noch denselben Namen trägt, aber zu einer anderen Sache wird. Die betriebswirtschaftliche Rationalität kann eine transformierende Kraft und Macht entfalten, durch die Sachen und die sie hervorbringende Arbeit verändert werden. Das betrifft nicht speziell schulische oder pädagogische Phänomene. An einem weniger komplexen und weniger umstrittenen Sachbereich als demjenigen der Pädagogik, am Bereich der medizinischen und pflegerischen Versorgung, lässt sich die Problematik der Transformationsmacht betriebswirtschaftlicher Rationalität vielleicht leichter verdeutlichen.

In den Pflegeberufen brachte die Einführung von Pflegestandards und einer auf wirtschaftliche Rationalität zielenden Pflegepersonalregelung22 mit sich, dass „das Gespräch mit den Pflegebedürftigen“ als eine „pflegerische Handlung“ mit einem eigens dafür anzusetzenden Zeitbudget finanziell nicht abrechnungsfähig ist.23 Daraus ergibt sich zugleich ein Motiv für die Abkehr von der öffentlichen Gesundheitsvorsorge zugunsten privatwirtschaftlicher Dienstleister und für die Anpassung der gesundheitlichen Versorgung an die finanzielle Leistungskraft der einzelnen. Aus der wissenschaftlichen Beobachtung von Krankenhäusern wird mitgeteilt, dass deren Umstrukturierung nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien „einen grundlegenden Wandel der Krankenhauskultur“ bewirke.24 In der generellen Tendenz erhielten monetäre „Werte und Motive“ „ein größeres Gewicht“ als solche, „die sich an inhaltlichen Versorgungszielen und ethischen Erwartungen orientieren“. Mit der Umdefinition des Patienten zum Krankenhauskunden und Käufer von medizinischen Dienstleistungen verschiebt sich die „Handlungslogik asymmetrischer Sorgebeziehungen“ (S. 205). Kunden handeln ihrem Begriff nach als freie Vertragspartner. Sie können warten, abwägen und auf die Leistung auch verzichten, wenn sie wollen. Der Patient hat oft keine Wahl hat und kann häufig auch nicht warten. Hinzu kommt, dass es generell „in der Logik großer organisatorischer und bürokratischer Gebilde [liegt], Bedürfnisse nach differenzierendem und sensiblen Handeln zu übergehen“ (S. 205). Ärzte und Pflegekräfte erleben als die nächste unmittelbar spürbare Folge der Umstellung auf betriebswirtschaftliche Rationalität einen Schub der Verdichtung ihrer Arbeit und vor allem „Zeitdruck“. Dasselbe Phänomen ist allen bekannt, die gegenwärtig an Schulen und Universitäten die Einführung von steuernden Elementen betriebwirtschaftlicher Rationalität mitvollziehen. Das modularisierte Studium zum Beispiel hat ein schlagartiges Anwachsen von Prüfungstätigkeiten nach sich gezogen. Das verengt die Handlungsspielräume und hat in Massenfächern bereits zu halbautomatisierten Formen der Leistungskontrolle genötigt.

Die transformierende Macht, mit der die ökonomische Rationalität die Sachen, unser Verhältnis zu ihnen, unser Selbstverständnis, unser Verhältnis zu anderen und damit auch Lehren, Lernen und Schule zu ändern vermag, scheint dabei anzusetzen, dass sie uns ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit abverlangt oder aufzwingt. Mit anderen Worten: Zum Konflikt kommt es dann, wenn die spezifische Zeitordnung der ökonomischen Rationalität andere sachbedingte Zeitordnungen zu dominieren, unter ihr Regime zu bringen beginnt. Für diese These ist vorausgesetzt, dass es überhaupt verschiedene, mit sachlichen Gegebenheiten oder Aufgaben verbundene Zeitordnungen gibt. An Stelle einer ausführlichen Begründung dafür, mag im Moment ein nochmaliger Hinweis auf den medizinischen Handlungsbezirk stehen: Ein Schlaganfall verlangt die ärztliche Versorgung sofort, und der Sache nach regulieren die medizinischen Erkenntnisse über Schlaganfälle den Rhythmus und die Dauer der Behandlung. Bei Überlagerung eines solchen Falles durch wirtschaftliche Gesichtspunkte könnte die Versorgung hinausgeschoben, im makabren Fall sogar unterlassen oder der sachgemäße Behandlungsrhythmus durch Ermittlungen zur Zahlungsfähigkeit des Patienten, die ihre eigene Zeit brauchen, verzerrt werden. Es darf also die Frage nach der Verträglichkeit der Zeitordnungen ökonomischer und anderer Rationalitäten gestellt werden.

Was charakterisiert die Eigenart der ökonomischen Zeitordnung? „Im ökonomischen Diskurs“ – ich folge Jean-Francois Lyotard25 - „gilt die Regel, dass, was geschieht, nur dann geschehen kann, wenn es bereits beglichen“ ist, wenn es also in gewisser Hinsicht bereits „geschehen ist“ beziehungsweise wenn es in der gedanklichen Vorwegnahme wie ein gewusstes und geplantes Ereignis, wie eine vollendete Vergangenheit verrechnet werden kann. In einem solchen Verhältnis zur Zeit befinden wir uns nicht immer. Nicht nur die philosophische Reflexion, die Lyotard in diesem Zusammenhang erwähnt, sondern auch lebendige Unterrichtssituationen und vielleicht jedes erkenntnisbezogene Lernen und Studieren verlangen die Aufmerksamkeit auf Vorkommnisse, die man nicht bereits weiß und darum nicht in eine Rechnung einstellen kann. Das durchkreuzt den „rechnerischen Gebrauch der Zeit“ (S. 16) und verdient eine genauere Betrachtung.

Das zentrale Element der ökonomischen Diskursart ist der Tausch (vgl. S. 285 ff.). Der Tausch ist durch eine eigentümliche Zeitstruktur gekennzeichnet. Der Abgeber eines Tauschobjekts greift zum Zeitpunkt der Abgabe vor auf einen Zeitpunkt der Erstattung des Gegenwerts. Die aktuelle Handlung der Abtretung erfolgt unter der Bedingung künftiger „Abgeltung“. Sonst kommt der Tausch nicht zustande. Die vorausspringende Gewissheit bzw. die Sicherung der Abgeltung ist der Grund für das stets in einer realen Gegenwart stattfindende Tauschangebot. Das Tauschangebot steht danach prinzipiell unter dem Druck der Gewissheit der Abgeltung. Bei Maßgeblichkeit der ökonomischen Diskursregel geraten auch die Produktionsprozesse, in denen Tauschgüter hervorgebracht werden, unter diesen Abgeltungsgewissheitsdruck. Davon kann man sich in mancher Hinsicht entlasten, indem man zum Beispiel eine Ausbildungsversicherung abschließt, falls man kann. Aber das verschiebt den Druck nur an eine andere Stelle.

Die Produktionszeit zur Herstellung eines Tauschangebots, also etwa auch die Zeit zur Hervorbringung von Kompetenzen durch schulisches Lernen und Unterrichten, „wird dem Tausch entzogen“ (S. 287). Die Produktion kommt gegenüber dem Tausch gleichsam grundsätzlich zu spät. Sie verschuldet sich damit. Unter Bedingungen der Abhängigkeit vom Tausch muss sie darum beschleunigt werden (S. 288). Daraus wird der empfundene Zeitdruck, den die Umstellung der Produktion auf ökonomische Organisationsprinzipien mit sich bringt, zum Teil erklärlich. Darüber hinaus lassen sich Produkte aller Art als gespeicherte Zeit, gewissermaßen als „Zeit-Pakete“ (S. 289) begreifen, die Kosten verursachen, solange sie noch nicht wieder in Umlauf gebracht und aufgeschnürt worden sind. Der Produktionsprozess und die Vorhaltung von Produkten zehren von geliehener Zeit, weil sie den Tausch hinausschieben. Darum sind sie insgesamt auf ihre Kreditwürdigkeit zu überprüfen und durchgängig zu kontrollieren (S. 290). Der Kredit blockiert andere Tauschakte. Er rentiert sich nur, wenn die für die Produktion gestundete und in den Produkten gespeicherte Zeit mitsamt den angefallenen Zinsen kurz-, mittel- oder langfristig in Zeitgewinne zurückverwandelt werden kann. Als ein langfristiger Zeitgewinn werden heute unter globalökonomischen Prämissen beispielsweise Investitionen in die Erfindungskraft einer Bevölkerung erachtet. Von ihnen kann die künftige Vermehrung von Produkten, die erfolgreiche Ausspähung und Mobilisierung von Bedürfnislücken und damit eine Verlängerung der Überlebensdauer der Tauschaktivität und ihrer Träger im Vergleich mit Konkurrenten erhofft werden. Das erwähnte Gutachten zur Bildungsgerechtigkeit verbindet die Zeitrechnung noch mit einer Freiheitsrechnung: Langfristiger gesellschaftlicher Freiheitsgewinn muss bezahlt werden mit vorhergehenden „Freiheitseinbußen“ durch „fremd determiniertes Lernen“26.

Als Antwort auf die Unsicherheit, die aus dem Risiko der Investition und der Ablösung des Zeitkredits entspringt, reicht die Hoffnung nicht aus. Soweit das Risiko die Produktion betrifft, wäre am sichersten die vollständige Zergliederung des Produktionsprozesses in eine Abfolge kausal notwendiger und hinreichender Produktionsschritte, die im Voraus nach Zeitquanten zu bemessen sind. Darin liegt ein starkes Motiv für die Mobilisierung von empirischer Bildungsforschung. Die Summe der Zeitquanten würde dann durch Rechnen Gewissheit über den Kreditbedarf für die verlorene Zeit verschaffen. Wenn eine exakte Zerlegung für bestimmte Produktionsprozesse nicht oder noch nicht möglich ist, muss man sich mit Modellen, Annäherungen und Schätzungen behelfen.27 Aber auch die Annäherung ist geführt vom Gewissheitsverlangen und seinem Ideal einer vollständigen Analyse des Zeitbedarfs sämtlicher Produktionsfaktoren.

Die transformierende Macht der ökonomischen Diskursart geht nach dieser Überlegung auf das Gewissheitsverlangen beim Zeittausch und noch spezieller darauf zurück, dass die vorgreifende Rechnung mit der abstrakten Zeit dieses Verlangen am besten zu befriedigen verspricht. Durch Rechnung können wir die Zeit in Gedanken gleichsam zusammenschrumpfen auf einen Zahlen- oder Geldwert. Die Schrumpfordnung der abstrakten Zeit scheint uns einen Vorsprung vor der realen Zeit zu verschaffen. Durch Projektion berechneter abstrakter Zeit auf den realen Zeitverlauf und durch Angleichung tatsächlicher Produktionsprozesse an vorwegentworfene abstrakte Zeitgliederungsmuster scheinen wir die reale Zeit gewissermaßen überholen und nachziehen zu können. In die Zeitgliederungsmuster sind Annahmen über kausale oder statistisch wahrscheinliche Bedingungsverhältnisse eingeschrieben. Damit wird die Voraussetzung des Tauschs erfüllt, dass die Gegenleistung gesichert werden kann, bevor das Produkt den Besitzer verlässt, ja sogar bevor es überhaupt entstanden ist.

5. Die abstrakten Zeitmuster, die auf die Ordnung einer Organisation, beispielsweise der Schule, übertragen werden, sind nicht identisch mit der realen Zeit des Lernens und des Lehrens. Wer unterrichtet „erwartet“ (Lyotard, S. 285), dass die Lernenden folgen. Er kann das aber nicht, wie beim Tausch, ohne weiteres voraussetzen. Unterrichtstypische Erscheinungen wie: die Zustimmung zur Darlegung eines Sachverhalts, die Einsicht in einen Gedankengang, die Frage zu einem Problem, die Einstellung und Haltung gegenüber einer Forderung, einem Wunsch oder einem Vorschlag, die emotionale Färbung und der Duktus einer Antwort, die stumme Verweigerung oder Verschließung können nicht vorwegnehmend in Rechnung gestellt und zur Bedingung von Unterricht gemacht werden. - Oder doch? Könnte man auch noch die Spontaneität kommunikativer Situationen und inhaltlich unvorhersehbarer Lehr- und Lernerfahrungen mitsamt der Skala möglicher Emotionen und der Bandbreite von individuell möglichen Stellungnahmen in einen betriebswirtschaftlich organisierten Ablauf und in die Tauschrechnung einplanen, beispielsweise als einen Produktionsfaktor mit einer Zeitinsel unter dem Titel ‚Unterrichtskultur’?28 Technisch wäre das vielleicht möglich. Kulturelle Produktivität wäre damit allerdings nicht gesichert.

Die produktive Einbildungskraft, die auch am sogenannten reproduktiven Lernen beteiligt ist29 und die mit ‚passiven’ leiblichen Widerfahrnissen zusammenspielt30, wäre auf diese Weise nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung noch nicht im Griff. Die Einbildungskraft kann aber auch „Unsinn“31 oder einen Sinn hervorbringen, der sich gegen ihre Vereinnahmung zu Tauschzwecken kehrt. Dies zu unterbinden, müsste der wichtigste Selektionsauftrag für ein Schulsystem werden, falls es der ökonomischen Rationalitätsform gehorchen soll. Die Frage ist jedoch, ob ein selektiver Gebrauch von Gedankenfreiheit dem Zweck des Bildungswesens und auf lange Sicht sogar dessen ökonomisch eingeschränkter Zweckdeutung entgegenkommt. Wenn es langfristig auch ökonomisch darauf ankommt, in unbekanntes Neuland vorzustoßen, dann liegt zumindest der Zweifel nahe, ob eine inhaltlich selektive Strukturbindung des Bildungswesens ökonomisch sinnvoll ist. Das Unbekannte bzw. das Nichtwissen und der Umgang mit ihm können streng genommen nicht vorab kategorial qualifiziert werden. Es kann gleichwohl zwischen einem ökonomischen und einem pädagogischen Umgang mit Nichtwissen unterschieden werden. Das ökonomisch interessierte Gewahrwerden von Nichtwissen dürfte sich einschränken auf das Noch-nicht-Wissen, also auf eine speziell vom Zukunftsaspekt bestimmte Bedeutung. Im pädagogischen Problemhorizont kennen wir demgegenüber seit Sokrates das Nichtwissen in einer prinzipiellen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifenden Bedeutungserweiterung. Das Bewusstsein des Nichtwissens in pädagogischer Bedeutung muss alle unsere Vorstellungen und Vorhaben begleiten können. Es spannt den Zeitraum unserer Lebensgegenwart als erzogene und in Bildung begriffene Menschen auf. Aus ihm könnte humanes Lernen seine Begründung, seine Begrenzung und seine Richtungswechsel schöpfen.

Für die Schule und ihre Hauptaufgabe, den Unterricht, ergibt sich daraus die Forderung, für alle Menschen Wege zu eröffnen, die geeignet sind, keinerlei Erkenntnis und Einsicht von vornherein abzuschneiden, und zwar auf eine gründliche Art und Weise der Eröffnung, nämlich so, dass die Bemühung um Wissen und Können bis zur Frage nach deren Grenzen und Schranken vordringt. Ein Lernen und Unterrichten, das diesem Postulat folgt, ist nur in einer Zeitordnung möglich, die alle anderen sachbedingten Zeitordnungen begrifflich und anschaulich in sich aufzunehmen vermag. Zu den anderen Zeitordnungen gehört auch die des ökonomischen bzw. betriebswirtschaftlichen Diskurses. Diese kann aber für Lernen und Unterricht nicht insgesamt oder in letzter Instanz das maßgebliche Zeitmuster sein. In definitiv maßgebender Funktion entfaltet sie gegenüber beliebigen Tauschgegenständen nur eine restriktive Macht, die die Zeitspanne zwischen der Hervorbringung und der Einlösung von Tauschwerten zu verkürzen und Bedeutungen auf Rechengrößen zu reduzieren strebt. Demgegenüber haben gründliche Lern- und Unterrichtsvorgänge eine verwandelnde Macht in Beziehung auf die Wahrnehmung von Dingen, Menschen und des eigenen Ich. Die Entfaltung dieser Macht ist angewiesen auf die Verzögerung der Zeitspanne zwischen Impuls und Reaktion32 und auf die Freistellung der ausgegrenzten Unterrichtszeit für Bemühungen, die einem anderen Ordnungsmuster folgen. In die vom Zeitdruck entlastete und verwandelnde pädagogische Verzögerung sind Erfahrung, Erinnerung, Wiederholung und Übung, spontanes Gespräch, das Ausloten von Empfindungen und Bedeutungen, die Erprobung der Tragweite von Einfällen und Einstellungen, von Gedanken und Haltungen, die Prüfung von Argumenten, Wahrheitsansprüchen und Handlungsformen so eingeschrieben, dass sich unser Gegenwartshorizont durch Rücksichten, Aussichten und Einsichten gleichsam dehnt, anstatt sich auf einen funktionalen und kulturell beliebig disponiblen Zukunftswert zusammenzuziehen.33 In der Zeitordnung der Schule könnte dann auch ein Verständnis dafür entstehen, dass vieles auf Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen angewiesen ist, für dessen Beachtungswürdigkeit die finalisierenden Kategorien eines Tauschwertes und Marktpreises schlechterdings unangemessen sind34, weil vieles uns sozusagen ‚etwas bringt’, ohne uns etwas einzubringen. Oder kurz und einigermaßen pathetisch: Eine zentrale Aufgabe von Schule könnte es sein, in das asymmetrische Verhältnis zwischen „Wert“ und „Würde“ und in alles, was dieser Unterscheidung analog ist, einzudringen.

 

Note:

1 Vgl. Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover, Dortmund, Darmstadt, Berlin 1975, S. 337- 347. – Zum pädagogischen und ökonomischen Hintergrundkonflikt zwischen Aufklärungspädagogik und Neuhumanismus vgl. Herwig Blankertz: Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Untersuchungen. Weinheim, München 1985.

2 Gorgias 520 E.

3 Vgl. Platon, Politeia (Der Staat) 416 E ff.

4 So in einem Bericht der Westdeutsche Allgemeinen Zeitung (Nr. 58 v. 9.3.07, S. 2) über das unten erwähnte Gutachten des Aktionsrats Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.

5 So der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg.

6 Vgl. Kienbaum Unternehmensberatung GmbH: Abschlussgutachten Organisationsuntersuchung im Schulbereich. Im Auftrage des Kultusministers des Landes NRW. Düsseldorf 1991.

7 Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.): Aktionsrat Bildung: Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten 2007 (VS Verlag für Sozialwissenschaften).

8 Darin steckt die Vorstellung vom Menschen als Produkt, als Gegenstand oder Tatsache, als „Mensch des Menschen“ (Rousseau) im Unterschied z.B. zu einem Verständnis vom Menschen als „Tatsache und Prinzip“ (Alfred Petzelt), d.h. zugleich als die Bedingung, von Gegenständen oder Tatsachen überhaupt sprechen zu können und damit eben nicht bloß „Tatsache“ zu sein.

9 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Eckhard Klieme u.a., Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Berlin, 2. Aufl. 2003, S. 134; die nachfolgenden Seitenangaben im Text sind darauf bezogen.

10 Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ bei Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen. Neuwied, Kriftel, Berlin 1995, S. 163, 214.

11 Bildungskommission NRW, a.a.O., S. 214.

12 So in einem Entwurf für eine neues Universitätsgesetz in Nordrhein-Westfalen.

13 Stefan Blankertz, Unternehmen Schule? Überlegungen zu einer Theorie der Folgeabschätzung marktlicher Schulstrukturreformen, in Pädagogische Korrespondenz 30, 2003, 5-23, hier. S. 15.

14 St. Blankertz, a.a.O. S. 7.

15 St. Blankertz ebd., S. 5.

16 Vgl. Jan Masschelein u. Maarten Simons: Globale Immunität oder Kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums. Zürich, Berlin 2005, S. 112.

17 Masschelein u. Simons., a.a.O., S. 118 f.

18 Vgl. Masschelein u. Simons., ebd., S. 10. Danach auch das Folgende.

19 Masschelein u. Simons, a,a,O,, S. 17.

20 Vgl. Masschelein u. Simons, a.a.O., S. 37 f.. Zu den Grenzen der Argumentation von Masschelein u. Simons vgl. die Rezension von Andrea Liesner, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftlioche Pädagogik 83, Heft1

21 Wahlmöglichkeiten aus Gründen der Individualisierung werden damit nicht diskreditiert. Der unterscheidende Punkt ist die Einebnung von inhaltlich differenten Bildungswegen durch Punkt- alias Geldwerte.

22 In Deutschland 1993 bis 1997.

23 Renate Stemmer: Grenzkonflikte in der Pflege. Patientenorientierung zwischen Umsetzungs- und Legitimationsschwierigkeiten. Frankfurt a.M. 2001, S. 193.

24 Hagen Kühn, Sebastian Klinke, Krankenhaus im Wandel. Zeit- und Kostendruck beeinflussen die Kultur des Heilens. In: Forschung & Lehre 14 (2007), 204-206, hier S. 206. Seitenangaben im folgenden Text danach.

25 Der Widerstreit. München 1987, hier S. 16; Seitenangaben im folgenden Text danach.

26 Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.): Aktionsrat ..., a.a.O., S. 21.

27 So lässt sich die gegenwärtig von der empirischen Bildungsforschung dringlich gemachte Suche nach Kompetenzmodellen verstehen.

28 So etwa nach dem Vorbild von Aktivitäten für „Unternehmenskultur“, wie sie in der Erwerbswirtschaft neuerdings gepflegt werden.

29 Vgl. dazu Lutz Koch: Logik des Lernens. Weinheim 1991, insbes. Zweiter und Dritter Teil.

30 Zu diesem Aspekt s. die phänomenologischen Beiträge zum Lernen von Käte Meyer-Drawe, unter anderen: Vom anderen Lernen, in: Michele Borrelli, Jörg Ruhloff (Hrsg.): Deutsche Gegenwartspädagogik Bd. II. Hohengehren 1996, S. 85-98. Dies., Anfänge des Lernens, in: Dietrich Benner (Hrsg.): Erziehung – Bildung – Negativität. Weinheim u. Basel 2005 (= Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft), S. 24-37.

31 So Kant: Kritik der Urteilskraft, § 50.

32 Zum bildungstheoretischen Gedanken der Verzögerung vgl. die Überlegungen von Andreas Dörpingshaus, zuletzt seinen Beitrag: Rhetorische Didaktik, in: Birgitta Fuchs, Christian Schönherr (Hrsg.): Urteilskraft und Pädagogik. Beiträge zu einer pädagogischen Handlungstheorie. Würzburg 2007, S. 161-176.

33 Kommentar: Unterricht, charakterisiert in einem allgemeinen Sinne, kultiviert Bedeutungsunterschiede. Was für uns bedeutsam wird, dem widmen wir Aufmerksamkeit und Zeit. Dafür brauchen wir Zeit. M.a.W.. Bedeutungen führen den Zeitgebrauch. Brauchen besagt ursprünglich genießen, sich erfreuen. Die Kultivierung von Bedeutungsunterschieden verweist von daher auf den Gedanken eines erfüllten Lebens. Das Regime der ökonomischen Zeitordnung tendiert dahin, Bedeutungen und deren Kultivierung (Lernen und Lehren) vorgängig an ihrem Zeitverbrauch zu messen und darauf einzuebnen. Eine extreme Erscheinungsform dieser Tendenz ist das learning on demand, wie es für die rasche Umstellung von Produktionsprozessen in Fertigungsbetrieben gefordert wird. Die Zerlegung des Lernens und Studierens in Module, die – nach systemtheoretischer Redeweise – nur noch „anschlussfähig“ sein müssen, ist eine andere Form der „Komplexitätsreduktion“ von Bedeutsamkeit auf Verbrauchsgesichtspunkte. Im Kontrast dazu könnte Bildung als Komplexitätssteigerung für ein vielseitig von Bedeutsamkeitsperspektiven geführtes Lebens gekennzeichnet werden.

34 Angespielt ist auf Kants Unterscheidung in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Zweiter Abschnitt, wo es heißt: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis [...]“. – Der Begriff der Würde braucht nicht, wie bei Kant, auf die moralische Gesetzgebung des Menschen zugespitzt zu werden. In jeder unvoreingenommenen Beachtung und Bedeutungserwägung von etwas, in jedem Appell an die Nachdenklichkeit, wie sie in Unterricht und Erziehung alltäglich vorkommen (können), steckt eine Art Würdigung, die vom Marktpreis für den Vollzug standardisierbarer Problemlösungen (in Abhebung gegen Problemstellungen) zu unterscheiden ist.

 


 

Topologik.net   ISSN 1828-5929

2008, n°3