TOPOLOGIK.net   ISSN 1828-5929      2008, nº 3


Fragen auf dem Weg von der transzendentalpragmatischen Erkenntnistheorie und Ethikbegruendung zur politischen Oekonomie

Reinhard Hesse

 

F: Sind wir ( Menschen ) auf Wahrheitsfindung angewiesen?

A: Ja, weil wir sonst unser Leben nicht bewaeltigen koennten. Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: wenn wir das Haus verlassen, sollten wir wissen, ob es regnet (denn dann wuerden wir ggfls. einen Schirm mitnehmen, um nicht naß zu werden), oder: bevor wir Pilze essen, muessen wir wissen, ob sie giftig sind oder nicht.

F: Wie finden wir heraus, ob etwas wahr ist?

A: Wenn wir etwas selbst noch nicht wissen, muessen wir (uns oder anderen) Fragen stellen; z.B.: habt ihr schon Erfahrung mit dem Verzehr dieser Pilze? Habt ihr schon aus dem Fenster geschaut oder die Hand aus dem Fenster gehalten?

F: Kann man Wahrheit nicht auch „ im Alleingang “ herausfinden?

A: Ja, indem man mit sich selbst in eine Art inneren Frage-Antwort-Dialog eintritt. Was wie ein „Alleingang“ aussieht, ist bei genauerem Hinsehen ein fiktiver innerer Dialog, in dem nicht zuletzt auch moegliche Argumente bzw. Informationen anderer antizipiert werden muessen.

F: Ist Wahrheitsuche also letzlich immer auf Intersubjektivitaet angewiesen?

A: Ja; schon deshalb, weil die eigene Antwort sich auch der Kritik, die von anderen geuebt wird, stellen und sich vor ihr (als „wahr“) bewaehren muss.

F: Wie sieht die in jeder ernst gemeinten Frage notwendigerweise enthaltene Intersubjektivitaet genauerhin aus? In welche Art Beziehung setzten wir uns durch das Stellen einer Frage zu unseren Mitmenschen?

A: Indem wir eine Frage stellen, anerkennen wir notwendigerweise bestimmte Sozialbeziehungen; wir anerkennen bestimmte Regeln zwischen uns und unseren Mitmenschen.

F: Was genau anerkennen wir?

A: Nun, zum Beispiel:

- dass ich den anderen brauche, weil ich selbst die Antwort nicht (oder nicht sicher) weiss,

- dass der andere ein Wesen ist, von dem ich unterstelle, dass es die Faehigkeit hat, mir zu antworten (dass er also insofern vernunftbegabt ist),

- dass er mich verstehen kann, d. h. dass er merkt: er wird angeredet, und: es ist eine Frage, die da an ihn gerichtet wird,

- dass ich mich an die sprachlichen Regeln halten will, die zwischen uns gelten, z. B.: dass ich die Woerter in der vereinbarten Weise verwenden will,

- dass ich das auch von ihm erwarte,

- dass er mir ernsthaft (und nicht unwahrhaftig) antwortet, d. h. auch, dass er mir sagt, wenn er keine Antwort weiss oder nur eine unzureichende, zweifelnde,

- dass er mir, wenn er keine oder nur eine unzureichende Antwort weiss, hilft, sie von jemand anderem beantwortet zu bekommen, da er verstanden hat, dass es mir darauf ankommt, meine Frage überhaupt beantwortet zu bekommen; mit anderen Worten, dass er akzeptiert, dass seine Person hinter dem Frageinteresse (dem Wahrheitsbeduerfnis) zurueckzustehen hat; dass in diesem Sinne jede ernst gemeinte Frage sich eigentlich an jedes vernunftbegabte Wesen richtet, also virtuell universalistisch ist,

- dass er bereit ist, mir zu sagen, warum er meint, dass seine Antwort die richtige Antwort (seiner Meinung nach also: die Wahrheit) sei,

- dass er bereit ist, mir diese Gruende zu erlaeutern und auf von mir eventuell vorgebrachte Gegengruende ernsthaft einzugehen; dies in dem Bemuehen, herauszufinden, wie es sich denn tatsaechlich verhaelt; mit anderen Worten, dass er bereit ist, mit mir ggfls. in einen argumentierenden Diskurs (in ein Gruende und Gegengruende abwaegendes Gespraech) einzutreten,

- dass in einem solchen argumentierenden Dialog bestimmte (logische) Regeln gelten, deren Respektierung und Befolgung durch beide Diskussionspartner vorausgesetzt werden muss,

- dass der Dialog jederzeit um weitere Teilnehmer erweitert werden kann bzw. muss, wenn diese neue Informationen respektive Argumente haben; dass ein argumentierender Dialog also ebenfalls virtuell universalistisch ist,

- dass, wenn keine neuen Informationen respektive Argumente mehr kommen, der Dialog einstweilen (d.h. bis vielleicht doch noch neue Informationen oder Argumente kommen) beendet ist und dass das Ergebnis dieses bis hierhin gefuehrten argumentierenden Dialoges das ist, was wir (einstweilen) als Antwort auf die gestellte Frage anzusehen haben, d.h. als die uns soweit moegliche Wahrheit.

F: Ist diese Liste wechselseitig notwendigerweise immer schon anzuerkennender Regeln (Regeln im Sinn universell geltender Rechte und Pflichten) vollstaendig?

A: Womoeglich nicht; vielleicht lassen sich noch weitere finden.

F: Waere es nicht sehr wichtig, solche Grundregeln des Sprachgebrauchs (von den einfachsten Sprachhandlungen angefangen bis zu den mit Hilfe logischer Partikel moeglichen komplexen Aussagen) methodisch zu rekonstruieren, um uns ueber die damit verbundenen wechselseitigen Pflichten Klarheit zu verschaffen?

A: In der Tat. Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, die Begruender der sog. Erlanger Schule, haben dies in ihrer 1967 erschienenen „Logischen Propaedeutik“ unternommen und zwar sowohl fuer theoretische Saetze (d.h. fuer solche, die sagen, was der Fall ist) wie auch fuer praktische Saetze (d.h. fuer solche, die sagen, was man tun sollte). Allerdings waren ihnen die eben skizzierten („transzendentalpragmatischen“) Voraussetzungen ihrer normativen Sprachtheorie nicht bewusst. Ihr Ansatz war: wenn der Mensch vernuenftig reden will, so kann er dies tun, indem er bestimmten Regeln folgt (naemlich den in unserer „Logischen Propaedeutik“ beschriebenen) und nicht: das zur conditio humana gehoerende unvermeidbare Stellen ernsthafter Fragen impliziert (als Bedingung seiner Moeglichkeit) immer schon die Anerkennung eines Sets wechselseitig geltender Regeln (und diese haben wir in der „Logischen Propaedeutik“ methodisch rekonstruiert).

F: Koennte man diesen „Regelset“ als eine (mit jeder ernst gemeinten Frage immer schon notwendig anerkannte) „Minimalethik“ bezeichnen?

A: Das koennte man wohl. So „minimal“ ist diese Ethik allerdings nicht! Wir werden im Folgenden noch sehen, welche praktisch-politischen Konsequenzen der ernsthafte Versuch hat (bzw. haette), unsere Lebenswelt so zu gestalten, dass die (eigentlich) notwendigen Bedingungen eines wahrheitssuchenden Dialogs auch wirklich realisiert sind.

F: Koennten wir etwas innehalten und die wichtigsten Ueberlegungen einmal kurz zusammenfassen?

A: 1. Wir Menschen sind (alle gleichermassen) existentiell auf das Stellen ernsthafter Fragen angewiesen.

2. Im Stellen einer einfachen, ernst gemeinten Frage, anerkennen wir (alle gleichermassen) notwendigerweise die allgemeine Geltung elementarer Regeln der Sozietaetsbildung (mit anderen Worten: der Ethik).

3. Wir Menschen sind insofern gleich. „Insofern gleich“ soll heissen: gleich in unserer Eigenschaft als mit denselben Rechten und Pflichten ausgestattete und der gleichen Verantwortung unterworfene potentielle Dialogpartner.

F: Lassen sich aus diesen bislang ja nur formalen Regeln auch inhaltliche Schlussfolgerungen bezueglich unseres Verhaltens in konkreten Situationen ableiten?

A: Ableiten nicht, aber mit ihnen erarbeiten. Dafuer – fuer das dialogisch-argumentierende Erarbeiten – sind sie ja gerade da.

Die Frage, ob das Verbot des Verkaufs von Alkohol an Jugendliche unter einer gewissen Altersstufe richtig ist, kann nicht derjenige beantworten, der es sich zur Aufgabe macht, ueber die Einhaltung der Gespraechsregeln zu wachen (jedenfalls nicht in dieser seiner Funktion). Dazu braucht es Sachkenntnis bezueglich der konkreten Situation.

Uebrigens ist das Woertchen „nur“ in der Frageformulierung missverstaendlich. Die Regeln sind nicht leider „nur“ formal, sondern sie haben eben gerade diesen Vorteil, „nur“ (d. h. rein) formal zu sein.

F: Warum ist das rein Formale dieser Grundregeln ein Vorteil?

A: Wenn schon an der Basis Inhalte (Werte) vorausgesetzt werden wuerden und diese (z. B. wegen unterschiedlicher Auffassungen darueber, ob Dieses oder Jenes als der betreffende Inhalt oder Wert angesehen werden darf/sollte/muss) in Kollision miteinander geraten wuerden, so waere dieser Konflikt nicht loesbar, ausser durch Rekurs auf vermeintlich „hoehere“ Werte (die aber ihrerseits wiederum kollidieren koennen usw.) oder durch Gewalt. Diese (die Gewalt) ist in der Tat in der Regel das „Verfahren“, mit dem solche Konflikte geloest werden; im Falle des Konfliktes zwischen Staaten (die behaupten, verschiedene Wertauffassungen zu vertreten) ist dieses Verfahren der Krieg. Den aber koennen wir uns im Zeitalter der globalen Umweltgefaehrdungen und der sich immer weiter verbreitenden Massenvernichtungsmittel nicht mehr leisten. Die Alternative dazu ist einzig und allein der sich an formalen Regeln orientierende argumentierende Dialog.

F: Gehen den vermeintlich primaeren, formalen „Grundregeln“ nicht mindestens die Wertsetzungen „Ernsthaftigkeit“ (des Fragens) und „Gleichheit“ (aller Menschen) voraus?

A: Es ist richtig, dass die Saetze „Du sollst ernsthaft fragen (wenn du die Wahrheit wissen willst)!“ und „Du sollst die Argumente aller Menschen gleicher - massen zulassen (wenn du die Wahrheit wissen willst)!“ ethische Postulate (allgemeine Sollenssaetze) sind. Es handelt sich jedoch nicht um (Wert-)Setzungen. Sie sind nicht (mutwillig oder zufaellig) gesetzt. Ihre Anerkennung ist vielmehr unhintergehbare Voraussetzung aller Wahrheitssuche; sie koennen nicht in Abrede gestellt werden; auch derjenige, der dies (verbal) tut, muss zur Verteidigung und Einsichtigmachung seiner Position (faktisch) Gebrauch von ihnen machen.

Der in der obigen Frage steckende vermeintliche Einwand ist also in Wirklichkeit ein (zutreffender) Hinweis auf die jedem ernsthaften Fragen (so auch diesem) immer schon notwendig inhaerente Minimalethik. Diese wird nicht „gesetzt“ (oder abgeleitet), sie ergibt sich durch transzendentalphilosophische Reflexion: aus der Analyse der Bedingungen der Moeglichkeit (ernsthaften Fragens).

F: Wahrheit kann streng genommen also nur in einer im obigen Sinne idealen Kommunikationssituation gefunden werden. Wo in aller Welt aber gibt es das? Ist das nicht eine gutgemeinte Utopie?

A: Eine Utopie kann es schon deshalb nicht sein, weil Wahrheit gar nicht anders gefunden werden kann. U-topia heisst ja: kein Ort. Wie man aber an der immer groesser werdenden und immer schneller anwachsenden Ansammlung von Wissen, ueber das die Menschheit heute verfuegt, sehen kann, muss es irgendwo einen „Ort“ geben, an dem Wahrheitsfindung moeglich ist.

Dieser „Ort“ ist die Antizipation: in unseren wahrheitssuchenden Dialogen tun wir so, als befaenden wir uns bereits in einer „idealen Kommunikationssituation“, wir antizipieren insbesondere die moeglichen Gegenargumente, die theoretisch von irgendeinem aus der Gesamtzahl der vernunftbegabten Wesen kommen koennten.

Diese Antizipation ist normalerweise in unserem Alltagsleben in einer unendlich grossen Vielzahl von Faellen erfolgreich. Aber man weiss trotzdem natuerlich nie, ob nicht irgendjemand doch ein Gegenargument haette (oder eine Information, die als Gegenargument verwendet werden muesste), jemand, der sich nicht zu Wort gemeldet hat, weil er entweder daran mutwillig gehindert wurde (durch Machtausuebung) oder weil er gar nicht davon wusste, dass sein Gesichtspunkt von Belang sein koennte (also aus Gruenden fehlender kommunikativer Infrastruktur). Beim letzten Punkt (dem der fehlenden kommunikativen Infrastruktur) wird deutlich, dass selbst wenn wir uns als Gedankenexperiment vorstellten, alle Machtausuebung auf Erden sei beseitigt und die christlich-kommunistische, herrschaftsfreie Gesellschaft der tatsaechlich Gleichen, Freien und Solidarischen sei realisiert, dass selbst dann die praktische Unmoeglichkeit bliebe, wirklich alle Menschen daraufhin zu befragen, ob ihnen zu der antizipatorisch ausgedachten Beantwortung der Sachfrage X Gegenargumente einfallen. Mit anderen Worten: Antizipation waere selbst im Idealfall einer wirklich freien Menschheitsgesellschaft weiterhin noetig. Um wieviel mehr aber in einer Menschheitsgesellschaft, die in einem so grossen Umfang und in einer so grossen Tiefe von Machtstrukturen durchwirkt ist, wie es in der unseren tatsaechlich der Fall ist!

F: Wenn wir einmal auf Kant und seinen subjektivisch-vordialogischen Vernunftbegriff blicken: welche Folge hat der Umstand, dass dieser ohne Vorgriff auf eine notwendigerweise (utopisch-)kontrafaktisch zu antizipierende „ideale Kommunikationssituation“ konzipiert ist?

A: Vernunft ist fuer Kant eine Faehigkeit des Individuums. Und die Aufklaerung ist ein an die Menschen als Individuen gerichteter Aufruf, eine Hoffnung, ein Wunsch, ein Appell. Sapere aude! (Ausrufungszeichen!) Dieser Appell muss, damit die Welt vernuenftiger wird, weltweit von Individuen gehoert und befolgt werden.

Kant gibt sich allerdings keiner Illusion darueber hin, wie es um die Aussichten dieses Programms bestellt ist. Weitere Fortschritte, auch bedeutende, haelt er fuer denkbar. An ihnen zu arbeiten, macht den Sinn des Lebens aus. Aber dass die Welt tatsaechlich vernuenftig werde, das zu unterstellen gestattet er sich nicht. ’Aus so krummem Holze, als wie der Mensch gemacht sei, koenne man nicht wohl einen geraden Stock machen’, sagte er. Was bleibt, ist eine „regulative Idee“, eine Hoffnung, die nie aufhoeren darf, da sie sich nie ganz realisieren wird. Den Sinn des eigenen, endlichen Lebens (nicht ganz, aber auch) auf etwas zu setzen, was nie wirklich erreicht sein wird, das eigene, endliche Leben, (nicht ganz, aber auch) einer Unendlichkeit anzuvertrauen, die sich einem entzieht - darin sieht er etwas „Religioeses“, genauer: das, was von der Religion uebrig bleibt, wenn sie „innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“ noch einen Platz haben will. Dieser Kant’sche Religionsbegriff ist jedenfallls nicht transzendenzbezogen, die Kant’sche „Religion“ stellt keine Verbindung zu einem Jenseits her; sie stellt eine aus der Vernunftlogik sich ergebende Verbindung zu dem nicht erreichbaren (utopischen) Ziel der Vernunftarbeit (in dieser Welt) her.

Die transzendentalpragmatische Sprachphilosophie und Ethik kann ohne diesen von Kant freundlicherweise noch mitgefuehrten Religionsbegriff auskommen (der aber auch schon bei Kant seines urspruenglich-pathetischen Inhalts entkleidet ist), da sie bemerkt hat, dass die Realisierung der Vernunft in der Welt zwar in dem Sinne utopisch ist, als sie immer wieder auch auf kontrafaktische Antizipation angewiesen ist, dass sie zugleich aber auch faktisch ist, insofern diese Antizipation (tatsaechlich) antizipatorisch-kontrafaktisch geschieht (und geschehen muss).

F: Ist das von jedem Menschen mit jeder ernst gemeinten Frage immer schon implizit anerkannte Prinzip der virtuellen Gleichheit und Reziprozitaet der Beziehung zwischen allen Menschen nicht eigentlich etwas, das in scharfem Gegensatz zu den bestehenden politischen und oekonomischen Machtverhaeltnissen steht, also eigentlich ein staendiger latenter Aufruf zur Ueberwindung eben dieser Verhaeltnisse?

A: So ist es offenbar. Und selbst wenn man annaehme, dass die Antizipation der Meinung der anderen von einem ideal gutwilligen Patriarchen durchgefuehrt wuerde, so bliebe auch das unzureichend, da auch er 1. letztlich nie wirklich sicher wissen kann, was die anderen tatsaechlich gesagt haetten, ausser er fragte sie und da 2. auch eine patriarchalisch-gutwillige Antizipation nichts Anderes ist als eine milde Art der Bevormundung, eine stillschweigende Behinderung vernunftbegabter Wesen dabei , ihre Gruende selbst zur Geltung zu bringen.

F: Was bedeutet die Angewiesenheit des wahrheitssuchenden Menschen auf den argumentierenden, virtuell universalistischen Dialog unter Gleichen in Bezug auf die politischen Institutionen des Staates?

A: Den Aufruf zu vollstaendiger Demokratisierung, zum immer wieder noetigen Aufbrechen von immer wieder neu sich bildenden Herrschaftsstrukturen!

Das ist eine Daueraufgabe, die nie erfuellt sein wird. Allenfalls sind allmaehlich groesser werdende Annaeherungen an das Ziel denkbar - bei immer wieder neu sich ergebenden Rueckschlaegen.

Freiheit ist eine „regulative Idee“; einen „Masterplan“ zu ihrer Erreichung gibt es nicht. Erst recht nicht einen, der in kurzer Frist funktioniert. Und auch nicht einen, der meint, die eine Ursache von politischer Unfreiheit erkannt zu haben (z. B. den Besitz an den Produktionsmitteln) und durch die schnelle und gewaltsame Beseitigung dieser Ursache das Uebel ein fuer allemal beseitigen zu koennen.

F: Und was bedeutet diese Erkenntnis in Bezug auf die Wirtschaft?

A: Den Aufruf zu vollstaendiger Demokratisierung auch des Wirtschaftslebens!

Das oben zur Politik Gesagte gilt hier sinngemaess. Denn die eigentliche politische Macht liegt heute (vielleicht mehr noch als frueher) in den Haenden der grossen Wirtschaftskraefte. Und zwar in dem doppelten Sinne, dass die Wirtschaftsentscheidungen drastische Auswirkungen auch auf andere Lebensbereiche haben und in dem, dass die Wirtschaftslenker politische Entscheidungen von vornherein in ihrem Interesse zu beeinflussen suchen.

Von hier, von den (undemokratischen) internen Strukturen der Wirtschaft her und von ihrem (undemokratischen) Einfluss auf das Gemeinwesen und auf das Zusammenleben der Voelker, geht eine wesentliche Ungleichheit zwischen den Menschen aus, hier ist jedenfalls eine ihrer Hauptquellen. Hier ist eine Gegenmacht, ein harter Kern des Widerstandes.

Nicht dass die Wirtschaft Wahrheitsfindung zu verhindern sucht. Sie ist ja selbst vital darauf angewiesen. Das, was sie braucht, will sie wissen. Dieses Wissen muss sicher und verlaesslich sein; es muss auf dem neuesten Stand sein und fuer jede Kritik offen. Aber sie interessiert sich natuerlich nur fuer das Wissen, dass sie braucht; ihr Wissen ist auf ihre Interessen ausgerichtet. Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt: ihre Interessen sind nicht per se die der Gesellschaft oder gar die der Menschheit. „What is good for General Motors, is good for the United States“ – diese These stimmt nicht. Und selbst wenn sie stimmen sollte, dann kann nicht General Motors darueber befinden! Das muss General Motors schon den United States, d.h. genauerhin, dem amerikanischen Volk ueberlassen.

Im deutschen Grundgesetz gibt es den Artikel 14, Abs.2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“. Das Eigentum hat sich dem Allgemeinwohl unterzuordnen: es ist ihm verpflichtet. Was aber das Allgemeinwohl ist, darueber kann nicht die Wirtschaft befinden; die ist nur ein Teil der Allgemeinheit; darueber kann allein die Allgemeinheit selbst befinden – der Souveraen, in diesem Fall: das deutsche Volk.

Den Artikel 14, Abs.2, des Grundgesetzes in demokratische Lebenswirklichkeit umzusetzen, ist die als verfassungsrechtliches Mandat gefasste, politisch-oekonomische Variante der regulativen Idee der Freiheit.

F: Die politischen Institutionen und die Formen des Wirtschaftslebens moegen ja wichtig sein, sind sie aber nicht letztlich nur aeussere Erscheinungsformen; kommt es im ewigen Kampf um mehr Freiheit nicht hauptsaechlich auf die innere Einstellung der Menschen an?

A: Sicherlich sind die aeusseren Institutionen nur leere Huellen, wenn sie nicht von den Ueberzeugungen der Menschen (genauer: von ausreichend starken Ueberzeugungen einer ausreichend grossen Zahl von Menschen) mit Leben gefuellt werden.

Andererseits ist es ja aber gerade das Ziel von Aufklaerung und Erziehung, Veraenderungen der Lebenswirklichkeit (der ‚aeusseren’ Lebensumstaende) zu erreichen. Aufklaerung und Erziehung sind keine l’art-pour-l’art-Unternehmungen.

Das Verhaeltnis beider Seiten zueinander muss dialektisch gesehen werden, es besteht eine Wechselwirkung zwischen ihnen: je demokratischer die aeusseren Institutionen strukturiert sind, desto groesser ist die Chance fuer eine gedeihliche Weiterentwicklung von Erziehung und Aufklaerung. Und je hoeher und differenzierter diese entwickelt sind, desto groesser wird der Druck auf die aeusseren Institutionen, sich dem erreichten Kulturniveau der Gesellschaft anzupassen.

Eine Garantie dafuer, dass diese dialektische Aufwaertsspirale auch tatsaechlich funktioniert, gibt es allerdings nicht.

F: Muss man nicht sogar befuerchten, dass die an der Beibehaltung (und am weiteren Ausbau) von Herrschaftsstrukturen Interessierten (d.h. vor allem die Wirtschaftskraefte und ihre Geschaeftstraeger in Politik und Medien) ihre Macht gebrauchen, um die Koepfe der Menschen so zu beeinflussen, dass ihnen (den Machthabern) keine Gefahr mehr droht, ja dass die von ihnen Beherrschten, die Macht der Maechtigen womoeglich sogar bereitwillig zu mehren sich bemuehen?

A: Natuerlich. Es waere eigentlich verwunderlich, wenn das nicht so waere. So war es schon immer, so ist es auch heute und in Zukunft wird es auch so sein. Allerdings sind einigen Teilen der Menschheit im Laufe ihrer Geschichte dennoch bedeutende Fortschritte im Kampf gegen Willkuer und Macht gelungen! Der demokratische Rechtsstaat und die Einrichtungen gesellschaftlicher Solidaritaet sind hier an erster Stelle zu nennen – trotz aller schwerwiegenden Maengel, die sie an sich haben moegen.

F: Welcher Mittel bedienen sich die Maechtigen?

A: Derjenigen, deren sie sich schon immer bedient haben; z. B.:

- Die Menschen dumm halten, jedenfalls auf den Gebieten, aus denen Gefahren erwachsen koennten; (d.h.: dafuer sorgen, dass sich die Beherrschten nicht oder jedenfalls so wenig wie moeglich ihrer wirklichen Lebensumstaende bewusst werden).

- Dazu gehoert, dass sie von ihren wirklichen Lebensproblemen abgelenkt werden (etwa durch sensationalistische Medienberichterstattung ueber irrelevante Themen).

- Sie mit Luegen und Halbwahrheiten in die Irre fuehren.

- Die Menschen durch die Religion glauben machen, dass die Verhaeltnisse, unter denen sie leben, gottgewollt seien.

- Die Menschen glauben machen, dass die Verhaeltnisse, unter denen sie leben, aufgrund von unveraenderbaren Sachzwaengen so seien, wie sie sind.

- Unterdrueckung und Laecherlichmachung aller Theorien, Personen oder Kraefte, die 1. die Strukturen der Macht beim Namen nennen und 2. ihre Veraenderbarkeit in einer Weise vertreten, die die Macht in Gefahr bringen koennte.

Zur Beeinflussung der Massen stehen den heutigen Machthabern sehr viel effizientere, weitreichendere (fast totalitaere) und differenziertere Mittel zu Verfuegung als den Machthabern frueherer Zeiten - insbesondere die Massenmedien. Dadurch ist es moeglich geworden, den Einsatz a) offener Gewaltanwendung und b) offener symbolischer Machtdemonstration zu reduzieren. Die Macht ist nicht mehr (so sehr) darauf angewiesen, sich mit dem Knueppel durchzusetzen, sie steckt in den Strukturen und vor allem: sie hat effizientere Methoden, die Koepfe zu beherrschen. „Soft power“ ist wirkungsvoller und haerter als „hard power“. Im Gegensatz zu frueher, wo die ostentative, geradezu exhibitionistische Prachtentfaltung der Maechtigen (der Kirche, des Adels) ein Mittel nicht nur der Selbstdarstellung, sondern auch der Beeindruckung (der Beherrschten) war, zeigt sich die heutige Macht nicht mehr, sie verschwindet hinter den Spiegelglasfronten der Bank- und Verwaltungsgebaeude. (Das V-Zeichen, das der Vorsitzende der Deutschen Bank 2005 vor Gericht dem Volk entgegenhielt, war ein Tabubruch.)

Die Maechtigen sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie auch Kritik zulassen, wenn dahinter keine Kraefte stehen, die eine Gefahr fuer sie darstellen. So erzeugen sie den Eindruck von Offenheit, Toleranz und vermeintlicher Freiheit. Marcuse nannte das „repressive Toleranz“.

F: Neben der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit ist die Wissenschaftsfreiheit, d. h. die Freiheit von Lehre und Forschung, eine der grossen Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaates. Koennte man nicht erwarten, dass die hier Taetigen, insbesondere die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler und die Philosophen, eben diese (oben beschriebene) Grunddiskrepanz zwischen dem zur Wuerde jedes vernunftbegabten Wesens gehoerenden intrinsischen Anspruch auf Freiheit und Gleichheit einerseits und den bestehenden Machtstrukturen andererseits zu einem ihrer Hauptthemen machen?

A: In jedem Fall besteht diese Diskrepanz latent, ob die hier taetigen Menschen sich ihrer bewusst sind oder nicht. Insofern geht von hier unvermeidbar ein, sagen wir, stummer (in den Strukturen der Wahrheitssuche angelegter) Anruf an die Macht aus, eine stille (meist unbewusste) Infragestellung. Fuer die Macht (wie immer sie heissen mag) kommt es darauf an, diesen latenten Widerspruch moeglichst gar nicht erst bewusst werden zu lassen oder ihn, wenn es dafuer schon zu spaet sein sollte und er sich zu artikulieren beginnt, zu unterdruecken und unschaedlich zu machen. Die in den letzten Jahren rasant zunehmende Aushoehlung der Idee und der Institutionen der Wissenschaftsfreiheit, ihre zunehmende Vereinnahmung durch die Wirtschaft im Sinne einer immer direkteren Abzweckung auf unternehmerische Profitinteressen, hat die traditionelle Bedeutung relativ freier Grundlagenforschung bereits im Kern angegriffen. Die Technischen und die Natur-Wissenschaften ebenso wie die fuer Wirtschaftsinteressen instrumentalisierbaren Teile der Sozialwissenschaften wurden durch die Politik (deren Aufgabe es ihrem eigenen Anspruch nach waere, dem Allgemeinwohl zu dienen) diesem Angriff weitgehend schutzlos preisgegeben. (Wenn nicht gar behauptet wurde, die Unterwerfung der Wissenschaften unter die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen diene dem Allgemeinwohl.)

Aber auch von den weniger direkt instrumentalisierbaren Teilen der Sozialwissenschaften sowie von den Geisteswissenschaften und den grossen philosophischen Stroemungen unserer Zeit geht keine Gefahr fuer die Macht aus. Nicht nur weil auch sie sich in materiellen Abhaengigkeiten befinden, die ein Aufmuepfen oder gar offenen Widerstand inopportun erscheinen lassen (also sozusagen aus aeusseren Gruenden), sondern auch aus Gruenden ihrer inneren Verfasstheit. So behauptet der „Kritische Rationalismus“, es gaebe gar keine positive Wahrheit (nur die Methode „Versuch und Irrtum“), der„Postmodernismus“ negiert den „modernen“ Vernunftbegriff und behauptet, es gaebe deren mehrere, die „szientistische Wissenschaftstheorie“ meint, sich auf eine logische Kritik der (Natur-)Wissenschaften beschraenken zu muessen, die „Analytische Sprachphilosophie“ ihrerseits beschaeftigt sich mit subtilen Analysen von Sprechakten. (Diese Einschaetzungen im Einzelnen zu entfalten und zu begruenden, wuerde an dieser Stelle zu weit fuehren.)

Das eigentliche Skandalon, naemlich den oben beschriebenen Grundwiderspruch, thematisieren sie, von einigen Individuen abgesehen (wie z.B. Noam Chomsky), nicht. Herrliche Zeiten fuer die Macht, „Herrschaftszeiten“, koennte man sagen, Herrschaftszeiten im engeren Wortsinn! Aber fuer jeden selbstaendig denkenden Menschen eigentlich beschaemend. Wer traut sich noch, die Dinge beim Namen zu nennen und die Maechtigen in ihre Schranken zu verweisen? Nun, das Grundgesetz hat es getan und in der Vergangenheit immer wieder einmal der verstorbene Papst.

F: Wie sollen denn die demokratischen Institutionen und die Strukturen der Oekonomie aussehen; wer soll wann, wie, welche Entscheidungen treffen?

A: Die sich hier stellenden Fragen sind natuerlich von ganz elementarer Bedeutung.

Zugleich muss man sich allerdings darueber im Klaren sein, dass sie nicht einmal gestellt und einmal geloest werden. Die Debatte um ihre bestmoegliche Beantwortung ist eine Daueraufgabe. Das Forum, in dem sie eroertert werden, ist die Gesellschaft insgesamt.

Die Ethik kann, wenn sie die Grenzen ihrer Kompetenz nicht ueberschreiten will, zu den inhaltlichen Fragen nicht Stellung nehmen; ihre Aufgabe ist es, die Diskussionsteilnehmer, d.h.: die Gesellschaft als solche, daran zu erinnern, dass, wenn sie ernsthaft an einer tragfaehigen (zuverlaessigen, richtigen, wahren) Antwort interessiert ist, dann auch (in dem Masse, in dem es auf dem historisch gegebenen kulturellen Niveau, auf dem sie sich befindet, moeglich ist) ihren Dialog (die gesellschaftliche Debatte) in einer Weise fuehren muss, die die Erreichung des gewuenschten Zieles ermoeglicht.

Es liegt auf der Hand (und wurde schon gesagt), dass die bestehenden Gesellschaften und Staaten und darueber hinaus die bestehende Weltgesellschaft sehr weit von der Erfuellung dieser elementaren Postulate entfernt sind.

F: Macht es sich die Ethik da nicht sehr leicht?

A: Die Grundlagen der Ethik (im Sinne der Reflexion auf die im Stellen jeder ernsthaften Frage notwendigerweise immer schon anerkannten virtuell universell geltenden reziproken Rechte und Pflichten) sind, wie es scheint, sehr leicht einzusehen. Man koennte sagen, sie seien trivial. (Ein etwas praeziserer Ausdruck waere wohl: „selbstverstaendlich“ – hierin kaeme das Selbstreferenzielle, das auf sich selbst Reflektierende, auch sprachlich zum Ausdruck.)

Es waere ja auch ueberraschend und sogar sehr bedenklich, wenn diese Grundlagen des (Sprach-)Handelns nicht tendenziell von jedermann leicht eingesehen werden koennten – wenn man sozusagen erst in praktischer Philosophie promoviert haben muesste, um das zu koennen. Ein hamburger Philosoph, dem von einem Vorlesungsteilnehmer ein Buch zur Lektuere empfohlen wurde, sagte, als er es praesentiert bekam, es sei ja „viel zu dick, um wahr zu sein“.

Dass es trotzdem Menschen geben sollte, die dicke Buecher schreiben und sich mit ethischen Ueberlegungen intensiv beschaeftigen, ja dies vielleicht sogar beruflich tun, haengt eigentlich „nur“ mit dem Umstand zusammen, dass es traditionell in den Debatten der praktischen Philosophie bedeutende und ernstzunehmende Denkrichtungen gibt, die fuer sich diese „Selbstverstaendlichkeit“ nicht anerkennen - ganz abgesehen von der Notwendigkeit, den Standpunkt der reflexiven Vernunft (der ethisch relevanten Selbstverstaendigung der Vernunft) gegen religioeses und ideologisches Denken zu verteidigen.

Institutionen haben, wie man nicht erst seit Parkinson weiss, oft (oder fast immer) auch eine Neigung zu Aufblaehung und Leerlauf, zu einer l’art pour l’art- Mentalitaet, und ein Gutteil der akademischen Ethikdebatten mag wohl auch hier zu verorten sein.

Die Auseinandersetzung mit divergierenden Positionen in der praktischen Philosophie selbst und mit den unterschiedlichen Formen religioesen und ideologischen Denkens ist sicherlich nicht „leicht“. Dazu ist es noetig, diese Positionen a) zu verstehen, sie b) zu analysieren und sie c) kritisch zu wuerdigen, um zu zeigen, was an ihnen haltbar ist und was nicht. Einfuehlungsvermoegen (besser: Hineindenkungsvermoegen), Sachkenntnis (Gelehrsamkeit) und kritisch-analytischer Verstand sowie eine eigene systematische Grundlage sind dafuer noetig.

Nicht „leicht“ ist weiter die Arbeit an der Verbreitung der gewonnenen Einsichten durch Erziehung und Aufklaerung. Bei der Erziehungsarbeit kommt es insbesondere darauf an, das natuerliche kindliche Fragen in voller Konsequenz anzunehmen und das Weiterfragen nicht durch Verweis auf vermeintliche Unreife des Kindes, auf Autoritaeten, Glaubenssetzungen, ideologische Axiome oder fixe Ideen willkuerlich abzuwuergen, im Gegenteil: es zuzulassen und zu foerdern bis man (reflexiv) bei der Erkenntnis der Bedingungen der Moeglichkeit des Fragens angelangt ist.

Und erst recht nicht „leicht“ ist, drittens, die immer neu noetige Auslotung der Spannung zwischen den unverzichtbaren freiheitlich-egalitaeren Grundpostulaten menschlicher Gesellschaftsbildung im Medium der Sprache und den in je verschiedener Weise historisch vorhandenen Formen von Herrschaft. Hier ist die Konfrontation mit den gesellschaftlichen Maechten am direktesten.

Damit die aufklaererischen Teile der Gesellschaft nicht von vornherein auf voellig verlorenem Posten stehen, ist es wesentlich, dass die historisch bereits erkaempften demokratischen Einrichtungen der Gesellschaft verteidigt und ausgebaut werden (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Parlamentarismus u. a. Konkretisationen des Rechts- und Sozialstaates).

F: Wird es einmal ein „Ende der Geschichte“ im Sinne eines endgueltigen Erreichens von Freiheit und Solidaritaet geben?

A: Ein solches „Ende“ gehoert wohl in den Bereich religioeser oder ideologischer Heilsvorstellungen. Eine „Erloesung“ in diesem Sinne ist hienieden nicht in Sicht. Wohl „Loesungen“, um die immer wieder neu gestritten werden muss. Diese „Loesungen“ beziehen ihren Sinn allerdings von ihrem Gerichtetsein auf die (regulative Idee der) Freiheit, pathetisch gesagt, auf die Realisierung der Wuerde des Menschen, oder sachlicher: auf die allmaehliche Annaeherung der Realitaet unseres Zusammenlebens an die in jeder ernst gemeinten menschlichen Kommunikation immer schon notwendig anerkannten Grundsaetze von Universalitaet und Reziprozitaet.

Es waere naiv, zu unterstellen, diese Spannung koenne einmal ein wirkliches Ende finden. Allzu leicht werden aus den Vertretern der Naechstenliebe furchterregende Inquisitoren, aus den Kaempfern fuer die Ueberwindung des Staates totalitaere Buerokraten, aus den Verteidigern des Sozialstaates seine neoliberalen Ueberwinder usw. Die Arbeit der Aufklaerung hoert nie auf.

F: Wird es der heutigen Menschheit auf laengere Sicht gelingen, ihre Konflikte in einer Weise zu loesen, die nicht ihren eigenen Untergang (ganz oder in grossen Teilen) heraufbeschwoert?

A: Angesichts des Ausmasses an Dummheit, Religion, Ideologie und anderen Arten von Unvernunft, bei gleichzeitig fortgesetzt hoher Aggressivitaet und Kurzsichtigkeit sieht es wohl eher duester aus.

F: Gibt es keinen Anlass zu Hoffnung?

A: Doch, den gibt es und hier gilt es, mit aller Kraft und auf allen Gebieten weiterzuarbeiten und sich nicht durch Rueckschlaege beirren zu lassen.

Ein grosser Teil der Menschheit und auch fuehrende Staatslenker haben eingesehen, dass sie Katastrophen und moeglicherweise den eigenen Untergang heraufbeschwoeren, wenn sie nichts Einschneidendes zur Gefahrenabwehr unternehmen. Diese Einstellung verdankt sich in der Regel wohl nicht eigentlich einer hochstehenden Moral, sondern laengerfristiger angelegten Eigeninteressenkalkuelen. Das ist aber immer noch besser, als wenn die Einsicht ganz fehlen wuerde.

Die Staaten haben in Gestalt der UNO und ihrer Unterorganisationen eine sehr wichtige globale Institution geschaffen, in der sie nach bestimmten formalen Verfahren ihre Konflikte loesen koennen; sie koennen es jedenfalls versuchen. In nicht wenigen und sogar in sehr bedeutenden, ja ueberlebenswichtigen Faellen sind bestehende oder sich abzeichnende Konflikte dort auch tatsaechlich geloest worden. Hieran gilt es unbedingt weiterzuarbeiten.

Der andere Bereich, der zu Hoffnung Anlass gibt, ist der der (ausserhalb der UNO getroffenen) multilateralen Abmachungen zwischen den Staaten, durch die globale oekologische oder militaerische Gefaehrdungen gemindert oder beseitigt werden sollen.

Ein dritter Bereich schliesslich sind die von Einzelstaaten (ohne UNO und ohne Absprache mit anderen Staaten) unilateral getroffenen, internen Massnahmen mit der gleichen Zielsetzung.

F: Ist der aufklaererische Impetus, der die geistige Grundlage all dieser Bestrebungen ist – oder es jedenfalls sein sollte -, ist dieser aufklaererische Impetus aber nicht letztlich doch naiv-idealistisch?

A: Ihn aufzugeben, wuerde bedeuten, das „Projekt Menschwerdung“ aufzugeben. Denn erst in dem Masse, in dem er frei seine Vernunft entfalten kann, realisiert sich der Mensch.

Und es wuerde bedeuten, dass wir die jahrtausendealte Kulturarbeit des Menschen, seinen leidvollen und zugleich mitreissenden Kampf um Erkenntnis missachteten.

Die Arbeit an der Aufklaerung ist nicht naiv. Sie ist unsere einzige Hoffnung.

Sie aufzugeben, liegt streng genommen auch gar nicht in unserer Macht, denn schon die ernst gemeinte Frage, ob sie nicht naiv sei, impliziert, ob man es weiss und will oder nicht, in nuce die Anerkennung ihres ganzen Programms. Zu erklaeren, man wolle sie aufgeben, bedeutete daher nichts anderes als dass man die eigene Situation als Vernunftwesen nicht verstanden hat. Eben dies waere naiv (da unreflektiert).

 


 

TOPOLOGIK.net   ISSN: 1828-5929

2008, n°3