Philippe Foray

Autorität im Unterricht:

Kontroverse und Argumente 

 

 

Als Einleitung dieses Beitrages würde ich gern erklären, warum ich das Thema „Autorität im Unterricht“ gewählt habe. Ich hatte schon früher die Gelegenheit, mit Professor Reichenbach über Autorität zu arbeiten. Das geschah für ein Heft der Zeitschrift für Pädagogik, zu dem deutsche und französische Kollegen beigetragen haben (Foray, 2007). Eine Grundlinie dieser Kooperation bestand in der Überzeugung, dass das Phänomen „Autorität“ im französischen und im deutschen Bereich nicht gleich eingeschätzt wird. Folglich schien es vielversprechend produktiv zu sein, die beiden unterschiedlichen Traditionen miteinander zu konfrontieren.

Man könnte fast sagen: in Frankreich wird Autorität oft als ein Faktum der erziehenden Beziehung verstanden, das heißt, eine zwar flexible Dimension – es gibt z.B. mehr oder weniger Autorität –   auf die man aber nicht verzichten kann. Im deutschen Bereich dagegen ist zunächst nur schon die Möglichkeit der Autorität ein Problem.

Ich werde hier zwei (französische) Begriffe der Autorität im Unterricht nacheinander vorstellen. Die Begriffe können grundsätzlich kritisiert werden. Darüber hinaus ist auch eine kritische Diskussion dieser Kritik selbst möglich.

 

1°) Pragmatische Hinsicht: Autorität als Mittel der Klassenführung

Am Anfang würde ich gerne ein Ergebnis einer empirischen Forschung vorstellen, die letztes Jahr an der Universität Saint-Etienne mit Lehrern der Grundschule durchgeführt wurde. Das Ziel dieser Forschung bestand darin, die Lehrervorstellungen über Autorität kennen zu lernen. Das hatte also nichts mit der Praxis zu tun, bzw. mit der Frage, ob der Lehrer eine autoritäre Persönlichkeit ist oder nicht, sondern nur mit den Überzeugungen der Lehrer. Wir haben keine statistische Erhebung gemacht, sondern Interviews geführt mit etwa fünfzehn Lehrpersonen, Frauen und Männern. Die Befragten sind an öffentlichen aber auch an katholischen Schulen angestellt. Wir haben Schulen im Stadtzentrum von Saint-Etienne gewählt, sowie in Vororten und auf dem Land.

Ein interessantes Ergebnis dieser Untersuchung besteht im Widerspruch, der im Lehrerdiskurs erscheint: der Widerspruch zwischen der ideologischen Absage der Autorität und der Anerkennung ihrer praktischen Notwendigkeit. Ich illustriere diesen Widerspruch mit zwei Beispielen (die hier wörtlich aus dem Französischen übersetzen werden).

Erstens: „das Wort „Autorität“? Das sagt mir nichts. Ich mag dieses Wort nicht. Autorität, das heißt, „Despotismus“. Was soll denn das heissen? Macht über die anderen zu besitzen ? Oder das heißt, dass deine Schüler dich hören sollen wenn du sprichst. Ja, das kann sein […] Wenn ich unterrichte, brauche ich ihre Aufmerksamkeit. Ist das Autorität? Ja, meine ich …“.

Zweitens : « Autorität ? Ich sehe hier etwas Strenges: man verlangt, ohne nach der Meinung zu fragen. Das macht mich an einige Länder denken in denen es Diktaturen, Autoritarismus gibt. Aber ja, das stimmt, im Klassenraum gibt es Regeln, die befolgt werden sollen; und man fragt hier nicht nach der Meinung der Schüler“.

Zunächst bringt Autorität die Redner in Verlegenheit. Sie ist schwer sie zu definieren. Und es scheint gleichzeitig, dass sie spontan verdammenswert ist.

Wenn man sich mit dieser Definition des Wortes begnügt, scheinen „Autorität“, „autoritär“ und „Autoritarismus“ synonym zu sein. Es sind politische Wörter, die von Befehlsgewalt sprechen. Diese Begriffe sind mit einer Entgegensetzung verbunden: einerseits der Lehrer und andererseits die Schüler. Für die Befragten allerdings ergibt diese Polarisierung nicht ein zutreffendes Bild des Unterrichtes. Richtig ist vielmehr die Vorstellung einer Gruppe, in der Lehrer und Schüler versammelt sind.

Natürlich ist es interessant zu bemerken, dass es für die Befragten selber nicht so leicht ist, Autorität (im praktischen Sinn) wirklich zu leugnen. Das wollten meine beiden Zitate zeigen: Leute, die anfänglich Autorität ablehnen und nach einer Weile des Überlegens feststellen, dass dies nicht so einfach ist.

Fragen nach Definitionen werden hier wichtig. Es scheint, dass die Annahme oder Ablehnung der Autorität von der Bedeutung abhängt, die man dem Wort selbst gibt. Autorität scheint unannehmbar zu sein, wenn sie an das Bild eines Befehls gebunden ist. Sie wird aber nützlich und sogar nötig, wenn im Verlauf des Gesprächs die Bedingungen der Klassenführung zur Sprache kommen.

Das Gespräch nahm hier oft eine pragmatische Dimension an: was soll man tun, damit die Schüler auf Lehreranweisungen positiv antworten? „Autorität“ lautet hier meist die Antwort unserer Befragten: diese ist ein Mittel, um minimale kollektive Ordnungsbedingungen zu garantieren, ohne die die schulische Arbeit nicht möglich wäre. Kurz: Autorität ist eine Bedingung der Klassenführung.

Die Ausübung der Autorität ist somit nicht willkürlich. Autorität hat keinen Zweck an sich. Sie gilt lediglich als Bedingung des Unterrichtes und der Lernprozesse. Normalerweise sollte sie sich im Unterricht und den Lernprozessen aufheben. Mit anderen Worten: die Inhalte des Unterrichtes dürfen nie autoritär vermittelt werden. Autorität ist eine negative Bedingung: ohne sie, würde es oft schwieriger, manchmal gar unmöglich zu unterrichten. Aber ihre Legitimation gewinnt sie nicht durch sich selbst, sondern nur durch das, was sie ermöglicht.

Wichtig für die weitere Analyse sind auch folgende Punkte:

- Erstens gibt es keine rechtsgültige Autorität ohne Respekt und dieser Respekt ist wechselseitig.  Dies betonte eine der Befragten: „Wie kann man erkennen, dass jemand Autorität besitzt? Ich würde sagen: wenn es ein (auf französisch) „climat de respect“ im Klassenraum gibt. Für mich sind Autorität und Macht nicht verbunden, sondern Autorität und Respekt […] Denn Erziehung besteht nicht darin, Kinder zu beherrschen, sondern sie zu führen“.

- Zweitens ist die Autorität des Lehrers nicht die wichtigste. Wichtiger ist im Klassenraum die Autorität der Regel. Dieser Punkt wurde von allen Befragten hervorgehoben. Diese Übereinstimmung ist natürlich interessant. Eine einfache Erklärung besteht wahrscheinlich darin, dass die „Autorität der Regel“ demokratischer ist als die des Lehrers. Zum Beispiel sagte eine Lehrerin: „Autorität existiert zwischen dem Schüler selbst und den Regeln; aber der Erwachsene bleibt immer Bürge dafür“.

 

Erste kritische Diskussion

Kritiken der Autoritäten in der Erziehung sind natürlich sehr alt. Ich bin mit Roland Reichenbach einverstanden, wenn er behauptet, dass die „Krise der Autorität…zum pädagogischen Programm der Moderne gehört“ (ZfP, 5/2007, S. 652). Diese Kritiken sind auch sehr bekannt, in Besonderheit jene, die man „pädagogisch“ nennen kann. Im französischen Raum ist man daran gewöhnt, in Rousseaus Emile (1763) den Anfang dieser Art von Kritik zu sehen.

Den Einfluss Rousseaus auf das pädagogische Denken in Frankreich und Europa kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Sicher ist auch, dass die geistige Strömung, die mit Emile ihren Anfang nimmt, die moderne Erziehung begründet. Wie der Philosoph Marcel Gauchet angemerkt hat (1985), kommt darin eine zentrale Dimension der demokratischen Gesellschaften zum Ausdruck, nämlich die zunehmende Bedeutung, die dem Individuum beigemessen wird. Die Aufwertung der Kindheit kann man thematisch von den Überlegungen Rousseaus bis zu dem gegenwärtigen französischen Slogan verfolgen, der den französischen Lehrern 1989 empfahl „das Kind ins Zentrum des Bildungssystems“ zu stellen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich – in der Familie ebenso wie im Kindergarten, in der Schule usw. – ein neues Verhältnis zur Kindheit entwickelt und damit neue Formen von Autorität, die - um kurz mit Max Weber zu sprechen – darauf zielen, die ehemals personen- und traditionsbedingte Autorität durch eine rationale, auf der Anerkennung der Gesetze basierende Autorität zu ersetzen und die zudem darum bemüht sind, die Kameradschaftlichkeit der Erziehung zu fördern: Kooperation, Verhandlung, Erklärung und Erziehungsverträge anstelle der früheren Unterrichtspraxis des „autoritären“ Aufzwingens und Einbläuens. Heutzutage kann wahrscheinlich niemand mehr Hegel zustimmen, wenn er schreibt, dass es zunächst gelte, den kindlichen „Eigenwillen“ zu brechen, und dann im gebrochenen Willen einen ganz neuen und vernünftigen Willen herzustellen (vgl. Benner 2001, S. 224f.). Wir sprechen heute von der Entwicklung des Kindes. Das geht wahrscheinlich nicht ohne Konflikt, aber damit wird klar daran erinnert, dass das Kind sich selbst erzieht in Beziehungen mit anderen Personen. Der Platz von Autorität in der Erziehung soll natürlich in diesem Kontext begriffen werden.

Allerdings lassen sich wenigstens zwei Einwände anführen, die die Komplexität der heutigen Situation von Autorität in der Erziehung zeigen:

Erstens müssen diejenigen, die Autorität in der Erziehung abschaffen wollen, sicherstellen, dass sie nicht einfach eine Form der Autorität durch eine andere ersetzen. Der französische Philosoph Alain Renaut weist darauf hin (2004, S. 17f.), dass dies häufig geschieht, wenn man sich, um die traditionellen Vorgehensweisen in der Schule nicht mehr bemühen zu müssen, auf das persönliche „Talent“ des Erziehers beruft. Diese Lösung widerspricht den Grundsätzen, auf die sie sich beruft: Wer allein auf persönlichem Talent beharrt, sorgt „unbemerkt für das Widerauftreten […] einer der ältesten Formen von Autorität, die in Gestalt charismatischer Beherrschung auftrat“. Alain Renaut erinnert an ein Wort Spinozas, wonach „die schlimmsten Tyrannen“ jene seien, „die sich darauf verstehen, geliebt zu werden“, bevor er schließt: „Wie kann man nur übersehen, dass der progressive Diskurs in dieser Form zuweilen gar ins Gegenteil umschlägt?“ (2004, S. 18).

 

2°) Statusbedingte Autorität

Ein zweiter, noch grundlegenderer Einwand muss hervorheben, dass der Verlust der Autorität im schulischen Alltag keinesfalls mit einem Gewinn an Freiheit für die Schüler einhergeht.

Wie kann man das verstehen? Ich beziehe mich wieder auf Marcel Gauchet:

Unser verändertes Verhältnis zur Kindheit hält „nicht allein den freien Ausdruck einer Besonderheit in Gang. Es fordert und begründet zudem die Ausweitung der Übernahme von Erziehungsaufgaben, die Erweiterung der grundsätzlichen Macht, die dem Bildungsgeschehen innewohnt“ (1985, S. 131) kurz: Es bedeutet einen größeren Zugriff der Erziehung auf die Kindheit.

Womit lässt sich diese Behauptung stützen? Durch ein bloßes Fakt: Seit der Zeit der autoritären Schule vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu der unseres Bildungsliberalismus im beginnenden 21. Jahrhundert hat sich die Dauer der Schulzeit durchschnittlich verdreifacht[1].

In diesem Sinne ginge es an der Realität vorbei, wenn man nur die Lehrer-Schüler-Beziehung und den Wandel der Autorität ins Auge fasste. Die Bildungsrealität zeichnet sich im Wandel der Autorität und in der Ausweitung des Bildungssystems zugleich ab, d.h. auch in der Kontrolle, welche die Gesellschaft über die neuen Generationen ausübt.

Diese Überlegung bringt einen gänzlich neuen Aspekt in das Nachdenken über die Frage nach der Autorität, da sie deutlich macht, dass die persönliche Autorität des Erziehers nur einen Teil der schulischen Autorität ausmacht. Mit anderen Worten: hinter der Autorität des Lehrers und Erziehers stehen soziale Forderungen. Aus dieser Sicht sind Lehrer immer nur Repräsentanten der Gesellschaft, die ihnen die Erziehungsverantwortung überträgt. Diese Verantwortung beruht auf einer weiteren Form von Autorität, die man als „statusbedingt“ bezeichnen kann.

Ich würde also gern sagen: „Autorität“ in diesem neuen Sinn bedeutet nichts anders als die Beschreibung eines bestimmten Platzes im Bildungssystem, d.h, der Platz des Erziehers.

An diesen Platz wird die Gesamtheit der Rechte und Pflichten gebunden, welche die Bildungseinrichtung (und über sie die Gesellschaft) dem Erzieher überträgt:

a) das Recht und die Pflicht, den Unterrichtsstoff zu bestimmen.

b) das Recht und die Pflicht, die Arbeiten und Lernfortschritte der Schüler zu bewerten und

c) das Recht und die Pflicht, das Unterrichtsgeschehen zu organisieren und dabei nötigenfalls auf Sanktionen zurückzugreifen.

So betrachtet bedeutet die statusbedingte Autorität des Lehrers, dass er nicht in seinem eigenen Namen, sondern im Auftrag der Gesellschaft handelt und dass diese ihn erst zur Erziehung autorisiert. Erziehung ist mit anderen Worten nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Angelegenheit. Auf dem Spiel steht nicht nur das Wachstum der „Neuankömmlinge“, sondern – wie bereits Emile Durkheim betont hat, – nichts weniger als die soziale Reproduktion (1911, S. 50f.). Wenn Erziehung nur die individuelle Entwicklung beträfe, könnte sie sich damit begnügen, Kindern eine psychologische Unterstützung und allgemeine pädagogische Kompetenz zukommen zu lassen, wie in Rousseaus Emile gezeigt wird. Weil sie aber das kollektive Überleben sichern soll, muss sie noch mehr leisten, nämlich dafür sorgen, dass die neuen Generationen all das lernen, was sie benötigen, um die Welt, in der sie leben werden, zu verstehen und deren Anforderungen gewachsen zu sein.

Man wird schließlich zwei verschiedene Aspekte bei der Betrachtung von Autorität unterscheiden müssen:

- den der Beziehung zwischen Erzieher und Zögling. Dabei handelt es sich um die erste Ebene, die oben unterschieden wurde.

- den der Anforderungen, welche die Gesellschaft den Erziehenden auferlegt. Die dem Lehrer übertragene Verantwortung ist im Schulsystem an eine statusbedingte Autorität gebunden, so wie sie oben definiert wurde. Der Lehrer kann seine Rolle an niemand anderen abgeben und dies unabhängig davon, ob er ansonsten die zuvor erwähnte pragmatische Autorität ablehnt.

 

3°) Zweite kritische Diskussion

Schon 1970 haben Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in La reproduction, die Bedeutung der statusbedingten Autorität hervorgehoben. Allerdings hatte ihre Untersuchung eine völlig andere Ausrichtung. Für die Autoren ging es nicht nur darum, das Bestehen einer statusbedingten Autorität einfach festzustellen, sondern diese theoretisch zu verurteilen. Bourdieu und Passeron schreiben der Autorität des Lehrers eine präzise ideologische Funktion zu: sie diene dazu, die Herrschaft zu verbergen, die dem erzieherischen Handeln zugrunde liege.

Objektiv betrachtet sei Erziehung „symbolische Gewalt“, „insofern sie mittels einer willkürlichen Macht eine kulturelle Willkür durchsetzt“ (1973, S. 13). Hier wird Erziehung als Prozess verstanden, bei dem die herrschenden Klassen ihre Herrschaftsbedingungen reproduzieren, indem sie Bildung gebetsmühlenartig weitergeben. Diese Bildung wird als willkürlich bewertet, womit gemeint ist, dass ihr erzieherischer Wert nicht inhaltlich begründet sei, sondern auf der Funktion beruhe, die sozialen Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren.

Weil diese Gewalt verborgen bleiben müsse, sei Autorität vonnöten. Die Autorität der Lehrer ist für Bourdieu und Passeron das, was der „kulturellen Willkür“ den Anschein einer „legitimen Kultur“ gibt. Sie spielt also ausschließlich eine ideologische Rolle. Es sei festgehalten, dass diese Verfremdung nicht nur die Schüler und Beherrschten trifft, sondern ebenso die Erzieher und damit die von ihnen vertretenen Herrscher: Um zu vermeiden, dass der Widerspruch zwischen der wahren Natur der Erziehung und der unbewussten „Praktik der Vertreter“ dieser Wahrheit jemandem bewusst werde, würde die Autorität (und die Autonomie der Institution Schule) gleichermaßen benötigt. Autorität sorge dafür, dass jeder Lehrer sein Handeln für positiv, unabhängig und emanzipatorisch halte, obwohl sich darin eigentlich nur die bestehenden Herrschaftsverhältnisse ausdrückten. Ebenso ließen sie auch jeden Schüler glauben, er sei für sich selbst und seine Schullaufbahn verantwortlich, obgleich er tatsächlich nichts anderes tue, als die Herrschaftsmechanismen zu verinnerlichen, denen er unwissentlich ausgeliefert sei.

Seit den sozialen Protesten vom Mai 1968 hat man in Frankreich kaum mehr über den Stellenwert der Autorität in der Erziehung nachgedacht. Wahrscheinlich hat auch La reproduction, erstmals erschienen 1970, zu diesem Schweigen beigetragen. Umgekehrt kann man vielleicht das erneute Nachdenken über Autorität in den letzten Jahren auch darauf zurückführen, dass man sich in Frankreich mittlerweile weitgehend von der Schule der kritischen Soziologie, wie sie besonders von Pierre Bourdieu entwickelt wurde, distanziert hat. Diese Distanzierung bezog sich allerdings nicht in erster Linie auf die Frage der Autorität, sondern – soweit sich das genau beurteilen lässt – vor allem auf die allgemeine Ausrichtung einer Bildungssoziologie, die den Sichtweisen und Initiativen der „Akteure“ nicht genug Beachtung gewährte. In den neunziger Jahren beharrten Forschungsarbeiten entsprechend auf den „paradoxen Erfolgen“ von Schülern, die nach soziologischen Theorien wie der von Bourdieu und Passeron normalerweise zum Scheitern verurteilt hätten sein müssen (Charlot, Bautier, Rochex 1992), oder sie beschäftigten sich mit der subjektiven Erfahrung der Schüler und meinten, dass diese nicht auf einen Zug im Spiel der Positionen sozialer Herrschaft reduziert werden könne (Dubet 1991).

Es versteht sich von selbst, dass die Gültigkeit der Theorie Bourdieus und Passerons im Hinblick auf die Autorität abhängig ist von der Gültigkeit der Thesen, Erziehung sei nichts als die Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse und die Bildungsinhalte ein Spiegelbild „kultureller Willkür“. Wenn man sich jedoch von diesen beiden Thesen löst, wird es zugleich möglich und nötig, über die Frage der Autorität neu nachzudenken. Dass Erziehung soziale Funktionen erfüllt, dass sie an der Auslese der Eliten und an der Reproduktion sozialer Gruppen beteiligt ist, ist eine Tatsache, die man einräumen kann. Das heißt, die erzieherische Autorität kann die Rolle spielen, die Bourdieu und Passeron ihr zugeschrieben haben.

In der Ausübung von Autorität jedoch nur diese ideologische Funktion zu sehen, ist ein reduktionistischer Standpunkt. Dasselbe gilt für die These Bourdieus zur Bildung und Kultur. Bildung und Kultur ermöglichen es Individuen auch, sich in der Welt zurechtzufinden und die Frage nach der Autorität muss unter diesem Aspekt neu überdacht werden. Die alte Autorität ist sicher verschwunden. Das bedeutet aber nicht, dass die Frage nach der Autorität sich praktisch nicht mehr stellt. Wenigstens soll man den Autoritarismus in der Schule, den man nicht bedauern soll, nicht mit der Autorität von der Schule verwechseln.

 


 

[1] Siehe dazu L’Etat de l’école (MEN 2002, S. 18): „Die Zahlen der 2000-2001 eingeschulten Kinder lassen für Vorschulkinder eine Gesamtschulzeit von 18,9 Jahren erwarten.“ Wie auch immer man die Dauer der Schulbildung eines Kindes (in der Primarschule) zu Beginn des 20. Jahrhunderts berechnet, sicher ist, dass sie von sehr viel kürzer war: 6 Jahre Schulpflicht (gegenüber 10 Jahren heute) und jenseits der Schulpflicht für die meisten Schüler keine weiteren Bildungsmöglichkeiten.

 

Literatur:

 

Benner, D. (2001): Allgemeine Pädagogik. Weinheim (vierte Auflage). München: Juventa.

Bourdieu, P.; Passeron, JC. (1973): Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Charlot, B.; Bautier, E.; Rochex, JY. (1992): Ecole et savoir dans les banlieues et ailleurs.Paris: A.Colin.

Dubet, F. (1991): Les lycéens. Paris: Seuil.

Durkheim, E. (1911): L’éducation, sa nature et son rôle. In: Education et sociologie. Paris: Puf, collection Quadrige, 1993, pp.41-68.

Foray, Ph. (2007): Autorität in der Schule: Überlegungen zu ihrer Systematik im Lichte der französischen Erziehungsphilosophie. In: Zeitschrift für Pädagogik (Basel, Berlin), 53.Jahrgang 2007, Heft 5, 615-626.

Gauchet, M. (1985): L’école à l’école d’elle-même. In: La démocratie contre elle-même. Paris: Gallimard, collection Tel, 2002, pp.109-169.

M.E.N. (Ministère de L’éducation Nationale), 2002, L’état de l’école. N°12, octobre 2002.

Reichenbach, R. (2007): Kaschierte Dominanz, leichte Unterwerfung. Bemerkungen zur Subtilisierung der pädagogischen Autorität. In: Zeitschrift für Pädagogik (Basel, Berlin), 53. Jahrgang 2007, Heft 5, 651-659.

Renaut, A. (2004): La fin de l’autorité, Paris: Flammarion, 2a édition, coll. Champs.

Rousseau, J.-J. (1763): Emile. Paris: Edition classiques Garnier, 1957.