Als
Einleitung dieses Beitrages würde
ich gern erklären, warum ich das
Thema „Autorität im Unterricht“
gewählt habe. Ich hatte schon früher
die Gelegenheit, mit Professor
Reichenbach über Autorität zu
arbeiten. Das geschah für ein Heft
der Zeitschrift für Pädagogik,
zu dem deutsche und französische
Kollegen beigetragen haben (Foray,
2007). Eine Grundlinie dieser
Kooperation bestand in der
Überzeugung, dass das Phänomen
„Autorität“ im französischen und im
deutschen Bereich nicht gleich
eingeschätzt wird. Folglich schien
es vielversprechend produktiv zu
sein, die beiden unterschiedlichen
Traditionen miteinander zu
konfrontieren.
Man
könnte fast sagen: in Frankreich
wird Autorität oft als ein Faktum
der erziehenden Beziehung
verstanden, das heißt, eine zwar
flexible Dimension – es gibt z.B.
mehr oder weniger Autorität – auf
die man aber nicht verzichten kann.
Im deutschen Bereich dagegen ist
zunächst nur schon die Möglichkeit
der Autorität ein Problem.
Ich
werde hier zwei (französische)
Begriffe der Autorität im Unterricht
nacheinander vorstellen. Die
Begriffe können grundsätzlich
kritisiert werden. Darüber hinaus
ist auch eine kritische Diskussion
dieser Kritik selbst möglich.
1°) Pragmatische Hinsicht: Autorität
als Mittel der Klassenführung
Am
Anfang würde ich gerne ein Ergebnis
einer empirischen Forschung
vorstellen, die letztes Jahr an der
Universität Saint-Etienne mit
Lehrern der Grundschule durchgeführt
wurde. Das Ziel dieser Forschung
bestand darin, die
Lehrervorstellungen über Autorität
kennen zu lernen. Das hatte also
nichts mit der Praxis zu tun, bzw.
mit der Frage, ob der Lehrer eine
autoritäre Persönlichkeit ist oder
nicht, sondern nur mit den
Überzeugungen der Lehrer. Wir haben
keine statistische Erhebung gemacht,
sondern Interviews geführt mit etwa
fünfzehn Lehrpersonen, Frauen und
Männern. Die Befragten sind an
öffentlichen aber auch an
katholischen Schulen angestellt. Wir
haben Schulen im Stadtzentrum von
Saint-Etienne gewählt, sowie in
Vororten und auf dem Land.
Ein
interessantes Ergebnis dieser
Untersuchung besteht im Widerspruch,
der im Lehrerdiskurs erscheint: der
Widerspruch zwischen der
ideologischen Absage der Autorität
und der Anerkennung ihrer
praktischen Notwendigkeit. Ich
illustriere diesen Widerspruch mit
zwei Beispielen (die hier wörtlich
aus dem Französischen übersetzen
werden).
Erstens: „das Wort „Autorität“? Das
sagt mir nichts. Ich mag dieses Wort
nicht. Autorität, das
heißt, „Despotismus“. Was soll denn
das heissen?
Macht über die anderen zu besitzen ?
Oder das heißt, dass deine Schüler
dich hören sollen wenn du sprichst.
Ja, das kann sein […] Wenn ich
unterrichte, brauche ich ihre
Aufmerksamkeit. Ist das Autorität?
Ja, meine ich …“.
Zweitens : « Autorität ? Ich sehe
hier etwas Strenges: man verlangt,
ohne nach der Meinung zu fragen. Das
macht mich an einige Länder denken
in denen es Diktaturen,
Autoritarismus gibt. Aber ja, das
stimmt, im Klassenraum gibt es
Regeln, die befolgt werden sollen;
und man fragt hier nicht nach der
Meinung der Schüler“.
Zunächst bringt Autorität die Redner
in Verlegenheit. Sie ist schwer sie
zu definieren. Und es scheint
gleichzeitig, dass sie spontan
verdammenswert ist.
Wenn
man sich mit dieser Definition des
Wortes begnügt, scheinen
„Autorität“, „autoritär“ und
„Autoritarismus“ synonym zu sein. Es
sind politische Wörter, die von
Befehlsgewalt sprechen. Diese
Begriffe sind mit einer
Entgegensetzung verbunden:
einerseits der Lehrer und
andererseits die Schüler. Für die
Befragten allerdings ergibt diese
Polarisierung nicht ein zutreffendes
Bild des Unterrichtes. Richtig ist
vielmehr die Vorstellung einer
Gruppe, in der Lehrer und Schüler
versammelt sind.
Natürlich ist es interessant zu
bemerken, dass es für die Befragten
selber nicht so leicht ist,
Autorität (im praktischen Sinn)
wirklich zu leugnen. Das wollten
meine beiden Zitate zeigen: Leute,
die anfänglich Autorität ablehnen
und nach einer Weile des Überlegens
feststellen, dass dies nicht so
einfach ist.
Fragen nach Definitionen werden hier
wichtig. Es scheint, dass die
Annahme oder Ablehnung der Autorität
von der Bedeutung abhängt, die man
dem Wort selbst gibt. Autorität
scheint unannehmbar zu sein, wenn
sie an das Bild eines Befehls
gebunden ist. Sie wird aber nützlich
und sogar nötig, wenn im Verlauf des
Gesprächs die Bedingungen der
Klassenführung zur Sprache kommen.
Das
Gespräch nahm hier oft eine
pragmatische Dimension an: was soll
man tun, damit die Schüler auf
Lehreranweisungen positiv antworten?
„Autorität“ lautet hier meist die
Antwort unserer Befragten: diese ist
ein Mittel, um minimale kollektive
Ordnungsbedingungen zu garantieren,
ohne die die schulische Arbeit nicht
möglich wäre. Kurz: Autorität ist
eine Bedingung der Klassenführung.
Die
Ausübung der Autorität ist somit
nicht willkürlich. Autorität hat
keinen Zweck an sich. Sie gilt
lediglich als Bedingung des
Unterrichtes und der Lernprozesse.
Normalerweise sollte sie sich im
Unterricht und den Lernprozessen
aufheben. Mit anderen Worten: die
Inhalte des Unterrichtes dürfen nie
autoritär vermittelt werden.
Autorität ist eine negative
Bedingung: ohne sie, würde es oft
schwieriger, manchmal gar unmöglich
zu unterrichten. Aber ihre
Legitimation gewinnt sie nicht durch
sich selbst, sondern nur durch das,
was sie ermöglicht.
Wichtig für die weitere Analyse sind
auch folgende Punkte:
-
Erstens gibt es keine rechtsgültige
Autorität ohne Respekt und dieser
Respekt ist wechselseitig. Dies
betonte eine der Befragten: „Wie
kann man erkennen, dass jemand
Autorität besitzt? Ich würde sagen:
wenn es ein (auf französisch)
„climat de respect“ im Klassenraum
gibt. Für mich sind Autorität und
Macht nicht verbunden, sondern
Autorität und Respekt […] Denn
Erziehung besteht nicht darin,
Kinder zu beherrschen, sondern sie
zu führen“.
-
Zweitens ist die Autorität des
Lehrers nicht die wichtigste.
Wichtiger ist im Klassenraum die
Autorität der Regel. Dieser Punkt
wurde von allen Befragten
hervorgehoben. Diese Übereinstimmung
ist natürlich interessant. Eine
einfache Erklärung besteht
wahrscheinlich darin, dass die
„Autorität der Regel“ demokratischer
ist als die des Lehrers. Zum
Beispiel sagte eine Lehrerin:
„Autorität existiert zwischen dem
Schüler selbst und den Regeln; aber
der Erwachsene bleibt immer Bürge
dafür“.
Erste kritische Diskussion
Kritiken der Autoritäten in der
Erziehung sind natürlich sehr alt.
Ich bin mit Roland Reichenbach
einverstanden, wenn er behauptet,
dass die „Krise der Autorität…zum
pädagogischen Programm der Moderne
gehört“ (ZfP, 5/2007, S.
652). Diese Kritiken sind auch sehr
bekannt, in Besonderheit jene, die
man „pädagogisch“ nennen kann. Im
französischen Raum ist man daran
gewöhnt, in Rousseaus Emile (1763)
den Anfang dieser Art von Kritik zu
sehen.
Den
Einfluss Rousseaus auf das
pädagogische Denken in Frankreich
und Europa kann man gar nicht hoch
genug einschätzen. Sicher ist auch,
dass die geistige Strömung, die mit
Emile ihren Anfang nimmt, die
moderne Erziehung begründet. Wie der
Philosoph Marcel Gauchet angemerkt
hat (1985), kommt darin eine
zentrale Dimension der
demokratischen Gesellschaften zum
Ausdruck, nämlich die zunehmende
Bedeutung, die dem Individuum
beigemessen wird. Die Aufwertung der
Kindheit kann man thematisch von den
Überlegungen Rousseaus bis zu dem
gegenwärtigen französischen Slogan
verfolgen, der den französischen
Lehrern 1989 empfahl „das Kind ins
Zentrum des Bildungssystems“ zu
stellen. In der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts hat sich – in der
Familie ebenso wie im Kindergarten,
in der Schule usw. – ein neues
Verhältnis zur Kindheit entwickelt
und damit neue Formen von Autorität,
die - um kurz mit Max Weber zu
sprechen – darauf zielen, die
ehemals personen- und
traditionsbedingte Autorität durch
eine rationale, auf der Anerkennung
der Gesetze basierende Autorität zu
ersetzen und die zudem darum bemüht
sind, die Kameradschaftlichkeit der
Erziehung zu fördern: Kooperation,
Verhandlung, Erklärung und
Erziehungsverträge anstelle der
früheren Unterrichtspraxis des
„autoritären“ Aufzwingens und
Einbläuens. Heutzutage kann
wahrscheinlich niemand mehr Hegel
zustimmen, wenn er schreibt, dass es
zunächst gelte, den kindlichen
„Eigenwillen“ zu brechen, und dann
im gebrochenen Willen einen ganz
neuen und vernünftigen Willen
herzustellen (vgl. Benner 2001, S.
224f.). Wir sprechen heute von der
Entwicklung des Kindes. Das geht
wahrscheinlich nicht ohne Konflikt,
aber damit wird klar daran erinnert,
dass das Kind sich selbst erzieht in
Beziehungen mit anderen Personen.
Der Platz von Autorität in der
Erziehung soll natürlich in diesem
Kontext begriffen werden.
Allerdings lassen sich wenigstens
zwei Einwände anführen, die die
Komplexität der heutigen Situation
von Autorität in der Erziehung
zeigen:
Erstens müssen diejenigen, die
Autorität in der Erziehung
abschaffen wollen, sicherstellen,
dass sie nicht einfach eine Form der
Autorität durch eine andere
ersetzen. Der französische Philosoph
Alain Renaut weist darauf hin (2004,
S. 17f.), dass dies häufig
geschieht, wenn man sich, um die
traditionellen Vorgehensweisen in
der Schule nicht mehr bemühen zu
müssen, auf das persönliche „Talent“
des Erziehers beruft. Diese Lösung
widerspricht den Grundsätzen, auf
die sie sich beruft: Wer allein auf
persönlichem Talent beharrt, sorgt
„unbemerkt für das Widerauftreten
[…]
einer der ältesten Formen von
Autorität, die in Gestalt
charismatischer Beherrschung
auftrat“. Alain Renaut erinnert an
ein Wort Spinozas, wonach „die
schlimmsten Tyrannen“ jene seien,
„die sich darauf verstehen, geliebt
zu werden“, bevor er schließt: „Wie
kann man nur übersehen, dass der
progressive Diskurs in dieser Form
zuweilen gar ins Gegenteil
umschlägt?“ (2004, S. 18).
2°) Statusbedingte Autorität
Ein
zweiter, noch grundlegenderer
Einwand muss hervorheben, dass der
Verlust der Autorität im schulischen
Alltag keinesfalls mit einem Gewinn
an Freiheit für die Schüler
einhergeht.
Wie
kann man das verstehen? Ich beziehe
mich wieder auf Marcel Gauchet:
Unser
verändertes Verhältnis zur Kindheit
hält „nicht allein den freien
Ausdruck einer Besonderheit in Gang.
Es fordert und begründet zudem die
Ausweitung der Übernahme von
Erziehungsaufgaben, die Erweiterung
der grundsätzlichen Macht, die dem
Bildungsgeschehen innewohnt“ (1985,
S. 131) kurz: Es bedeutet einen
größeren Zugriff der Erziehung auf
die Kindheit.
Womit
lässt sich diese Behauptung stützen?
Durch ein bloßes Fakt: Seit der Zeit
der autoritären Schule vom Anfang
des 20. Jahrhunderts bis zu der
unseres Bildungsliberalismus im
beginnenden 21. Jahrhundert hat sich
die Dauer der Schulzeit
durchschnittlich verdreifacht[1].
In
diesem Sinne ginge es an der
Realität vorbei, wenn man nur die
Lehrer-Schüler-Beziehung und den
Wandel der Autorität ins Auge
fasste. Die Bildungsrealität
zeichnet sich im Wandel der
Autorität und in der Ausweitung des
Bildungssystems zugleich ab, d.h.
auch in der Kontrolle, welche die
Gesellschaft über die neuen
Generationen ausübt.
Diese
Überlegung bringt einen gänzlich
neuen Aspekt in das Nachdenken über
die Frage nach der Autorität, da sie
deutlich macht, dass die persönliche
Autorität des Erziehers nur einen
Teil der schulischen Autorität
ausmacht. Mit anderen Worten: hinter
der Autorität des Lehrers und
Erziehers stehen soziale
Forderungen. Aus dieser Sicht sind
Lehrer immer nur Repräsentanten der
Gesellschaft, die ihnen die
Erziehungsverantwortung überträgt.
Diese Verantwortung beruht auf einer
weiteren Form von Autorität, die man
als „statusbedingt“ bezeichnen kann.
Ich
würde also gern sagen: „Autorität“
in diesem neuen Sinn bedeutet nichts
anders als die Beschreibung eines
bestimmten Platzes im
Bildungssystem, d.h, der Platz des
Erziehers.
An
diesen Platz wird die Gesamtheit der
Rechte und Pflichten gebunden,
welche die Bildungseinrichtung (und
über sie die Gesellschaft) dem
Erzieher überträgt:
a)
das Recht und die Pflicht, den
Unterrichtsstoff zu bestimmen.
b)
das Recht und die Pflicht, die
Arbeiten und Lernfortschritte der
Schüler zu bewerten und
c)
das Recht und die Pflicht, das
Unterrichtsgeschehen zu organisieren
und dabei nötigenfalls auf
Sanktionen zurückzugreifen.
So
betrachtet bedeutet die
statusbedingte Autorität des
Lehrers, dass er nicht in seinem
eigenen Namen, sondern im Auftrag
der Gesellschaft handelt und dass
diese ihn erst zur Erziehung
autorisiert. Erziehung ist mit
anderen Worten nicht nur eine
individuelle, sondern auch eine
kollektive Angelegenheit. Auf dem
Spiel steht nicht nur das Wachstum
der „Neuankömmlinge“, sondern – wie
bereits Emile Durkheim betont hat, –
nichts weniger als die soziale
Reproduktion (1911, S. 50f.). Wenn
Erziehung nur die individuelle
Entwicklung beträfe, könnte sie sich
damit begnügen, Kindern eine
psychologische Unterstützung und
allgemeine pädagogische Kompetenz
zukommen zu lassen, wie in Rousseaus
Emile gezeigt wird. Weil sie
aber das kollektive Überleben
sichern soll, muss sie noch mehr
leisten, nämlich dafür sorgen, dass
die neuen Generationen all das
lernen, was sie benötigen, um die
Welt, in der sie leben werden, zu
verstehen und deren Anforderungen
gewachsen zu sein.
Man
wird schließlich zwei verschiedene
Aspekte bei der Betrachtung von
Autorität unterscheiden müssen:
- den der Beziehung
zwischen Erzieher und Zögling. Dabei
handelt es sich um die erste Ebene,
die oben unterschieden wurde.
-
den der
Anforderungen, welche die
Gesellschaft den Erziehenden
auferlegt. Die dem Lehrer
übertragene Verantwortung ist im
Schulsystem an eine statusbedingte
Autorität gebunden, so wie sie oben
definiert wurde. Der Lehrer kann
seine Rolle an niemand anderen
abgeben und dies unabhängig davon,
ob er ansonsten die zuvor erwähnte
pragmatische Autorität ablehnt.
3°) Zweite kritische Diskussion
Schon
1970 haben Pierre Bourdieu und
Jean-Claude Passeron in La
reproduction, die Bedeutung der
statusbedingten Autorität
hervorgehoben. Allerdings hatte ihre
Untersuchung eine völlig andere
Ausrichtung. Für die Autoren ging es
nicht nur darum, das Bestehen einer
statusbedingten Autorität einfach
festzustellen, sondern diese
theoretisch zu verurteilen. Bourdieu
und Passeron schreiben der Autorität
des Lehrers eine präzise
ideologische Funktion zu: sie diene
dazu, die Herrschaft zu verbergen,
die dem erzieherischen Handeln
zugrunde liege.
Objektiv betrachtet sei Erziehung
„symbolische Gewalt“, „insofern sie
mittels einer willkürlichen Macht
eine kulturelle Willkür durchsetzt“
(1973, S. 13). Hier wird Erziehung
als Prozess verstanden, bei dem die
herrschenden Klassen ihre
Herrschaftsbedingungen
reproduzieren, indem sie Bildung
gebetsmühlenartig weitergeben. Diese
Bildung wird als willkürlich
bewertet, womit gemeint ist, dass
ihr erzieherischer Wert nicht
inhaltlich begründet sei, sondern
auf der Funktion beruhe, die
sozialen Herrschaftsverhältnisse zu
reproduzieren.
Weil
diese Gewalt verborgen bleiben
müsse, sei Autorität vonnöten. Die
Autorität der Lehrer ist für
Bourdieu und Passeron das, was der
„kulturellen Willkür“ den Anschein
einer „legitimen Kultur“ gibt. Sie
spielt also ausschließlich eine
ideologische Rolle. Es sei
festgehalten, dass diese Verfremdung
nicht nur die Schüler und
Beherrschten trifft, sondern ebenso
die Erzieher und damit die von ihnen
vertretenen Herrscher: Um zu
vermeiden, dass der Widerspruch
zwischen der wahren Natur der
Erziehung und der unbewussten
„Praktik der Vertreter“ dieser
Wahrheit jemandem bewusst werde,
würde die Autorität (und die
Autonomie der Institution Schule)
gleichermaßen benötigt. Autorität
sorge dafür, dass jeder Lehrer sein
Handeln für positiv, unabhängig und
emanzipatorisch halte, obwohl sich
darin eigentlich nur die bestehenden
Herrschaftsverhältnisse ausdrückten.
Ebenso ließen sie auch jeden Schüler
glauben, er sei für sich selbst und
seine Schullaufbahn verantwortlich,
obgleich er tatsächlich nichts
anderes tue, als die
Herrschaftsmechanismen zu
verinnerlichen, denen er
unwissentlich ausgeliefert sei.
Seit
den sozialen Protesten vom Mai 1968
hat man in Frankreich kaum mehr über
den Stellenwert der Autorität in der
Erziehung nachgedacht.
Wahrscheinlich hat auch La
reproduction, erstmals
erschienen 1970, zu diesem Schweigen
beigetragen. Umgekehrt kann man
vielleicht das erneute Nachdenken
über Autorität in den letzten Jahren
auch darauf zurückführen, dass man
sich in Frankreich mittlerweile
weitgehend von der Schule der
kritischen Soziologie, wie sie
besonders von Pierre Bourdieu
entwickelt wurde, distanziert hat.
Diese Distanzierung bezog sich
allerdings nicht in erster Linie auf
die Frage der Autorität, sondern –
soweit sich das genau beurteilen
lässt – vor allem auf die allgemeine
Ausrichtung einer
Bildungssoziologie, die den
Sichtweisen und Initiativen der
„Akteure“ nicht genug Beachtung
gewährte. In den neunziger Jahren
beharrten Forschungsarbeiten
entsprechend auf den „paradoxen
Erfolgen“ von Schülern, die nach
soziologischen Theorien wie der von
Bourdieu und Passeron normalerweise
zum Scheitern verurteilt hätten sein
müssen (Charlot, Bautier, Rochex
1992), oder sie beschäftigten sich
mit der subjektiven Erfahrung der
Schüler und meinten, dass diese
nicht auf einen Zug im Spiel der
Positionen sozialer Herrschaft
reduziert werden könne (Dubet 1991).
Es
versteht sich von selbst, dass die
Gültigkeit der Theorie Bourdieus und
Passerons im Hinblick auf die
Autorität abhängig ist von der
Gültigkeit der Thesen, Erziehung sei
nichts als die Reproduktion der
Herrschaftsverhältnisse und die
Bildungsinhalte ein Spiegelbild
„kultureller Willkür“. Wenn man sich
jedoch von diesen beiden Thesen
löst, wird es zugleich möglich und
nötig, über die Frage der Autorität
neu nachzudenken. Dass Erziehung
soziale Funktionen erfüllt, dass sie
an der Auslese der Eliten und an der
Reproduktion sozialer Gruppen
beteiligt ist, ist eine Tatsache,
die man einräumen kann. Das heißt,
die erzieherische Autorität kann die
Rolle spielen, die Bourdieu und
Passeron ihr zugeschrieben haben.
In
der Ausübung von Autorität jedoch
nur diese ideologische Funktion zu
sehen, ist ein reduktionistischer
Standpunkt. Dasselbe gilt für die
These Bourdieus zur Bildung und
Kultur. Bildung und Kultur
ermöglichen es Individuen auch, sich
in der Welt zurechtzufinden und die
Frage nach der Autorität muss unter
diesem Aspekt neu überdacht werden.
Die alte Autorität ist sicher
verschwunden. Das bedeutet aber
nicht, dass die Frage nach der
Autorität sich praktisch nicht mehr
stellt. Wenigstens soll man den
Autoritarismus in der Schule, den
man nicht bedauern soll, nicht mit
der Autorität von der Schule
verwechseln.
[1]
Siehe dazu L’Etat de
l’école (MEN 2002, S.
18): „Die Zahlen der
2000-2001 eingeschulten
Kinder lassen für
Vorschulkinder eine
Gesamtschulzeit von 18,9
Jahren erwarten.“ Wie auch
immer man die Dauer der
Schulbildung eines Kindes
(in der Primarschule) zu
Beginn des 20. Jahrhunderts
berechnet, sicher ist, dass
sie von sehr viel kürzer
war: 6 Jahre Schulpflicht
(gegenüber 10 Jahren heute)
und jenseits der
Schulpflicht für die meisten
Schüler keine weiteren
Bildungsmöglichkeiten.
Literatur:
Benner, D. (2001): Allgemeine
Pädagogik. Weinheim (vierte
Auflage). München: Juventa.
Bourdieu, P.; Passeron, JC. (1973):
Grundlagen einer Theorie der
symbolischen Gewalt. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Charlot, B.; Bautier, E.; Rochex,
JY. (1992): Ecole et savoir dans les
banlieues et ailleurs.Paris:
A.Colin.
Dubet, F. (1991): Les lycéens.
Paris: Seuil.
Durkheim, E. (1911): L’éducation, sa
nature et son rôle. In: Education et
sociologie. Paris: Puf, collection
Quadrige, 1993, pp.41-68.
Foray, Ph. (2007): Autorität in der
Schule: Überlegungen zu ihrer
Systematik im Lichte der
französischen Erziehungsphilosophie.
In: Zeitschrift für Pädagogik
(Basel, Berlin), 53.Jahrgang 2007,
Heft 5, 615-626.
Gauchet, M. (1985): L’école à
l’école d’elle-même. In: La
démocratie contre elle-même. Paris:
Gallimard, collection Tel, 2002,
pp.109-169.
M.E.N. (Ministère de L’éducation
Nationale), 2002, L’état de l’école.
N°12, octobre 2002.
Reichenbach, R. (2007): Kaschierte
Dominanz, leichte Unterwerfung.
Bemerkungen zur Subtilisierung der
pädagogischen Autorität. In:
Zeitschrift für
Pädagogik (Basel, Berlin), 53.
Jahrgang 2007, Heft 5, 651-659.
Renaut, A. (2004): La fin de
l’autorité, Paris: Flammarion, 2a
édition, coll.
Champs.