TOPOLOGIK.net   ISSN 1828-5929      2008, nº 3


Vorwort zu dem Band: Bildungsstandards. Instrumente zur Qualitätssicherung im Bildungswesen Chancen und Grenzen –

Beispiele und Perspektiven

Schöningh-Verlag Paderborn 2007

Dietrich Benner

 

Der Band präsentiert Beiträge aus einem Symposion über „Bildungsstandards“, das im Dezember 2006 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand, und ordnet diese nach drei Themenbereichen. Im ersten werden „Chancen und Grenzen“ der Outputorientierung des Bildungswesens reflektiert, von denen abhängen dürfte, ob Bildungsstandards die ihnen zugesprochene Funktion für eine Qualitätssicherung von Bildungsprozessen erfüllen können, im zweiten „Beispiele“ aus der Theoriediskussion und Forschung vorgestellt, die zeigen, was bei der Entwicklung reflexiver Bildungsstandards zu beachten sein wird, im dritten „Perspektiven“ für weitergehende Problemstellungen einer reflexiven Bildungsforschung skizziert.

Die Referentinnen und Referenten des Symposions gehören zum überwiegenden Teil einer im Jahre 2003 gegründeten Internationalen Forschergruppe „Unterricht - Unterrichtstheorie - Unterrichtsforschung“ an. In dieser arbeiten Erziehungswissenschaftler aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, der Schweiz, Tschechien und China mit finanzieller Unterstützung ihrer Heimatuniversitäten daran, die in der neueren Bildungsforschung vorgenommene Konzentration auf Fragen der Outputsteuerung um stärker unterrichtsbezogene Problemstellungen, Theorien und Forschungsvorhaben zu erweitern. Angestrebt wird eine Rahmenkonzeption, in deren Zentrum Beziehungen zwischen In- und Outputorientierung sowie Aufgaben und Wirkungen eines erziehenden Unterrichts und eines bildenden Schullebens stehen.

Die erste Gruppe von Abhandlungen eröffnet ein Beitrag von Olaf Köller (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt Universität zu Berlin). Dieser informiert über den Stand der Entwicklung von „Bildungsstandards“ und „Einheitlichen Prüfungsanforderungen“, mit denen Bildungspolitik und Schulreform gegenwärtig auf das „mediokre Abschneiden“ Deutschlands in internationalen Schulleistungsvergleichen reagieren. An den Fächern Englisch und Biologie wird gezeigt, wie Bildungsstandards auch für die Sekundarstufe II entwickelt werden. Der Beitrag schließt mit dem Ausblick, dass Bildungsstandards für die Abiturstufe verlässlichere „Informationen über die Studieneignung von Bewerberinnen und Bewerbern“ als die heutige Abiturdurchschnittsnote geben können.

Im zweiten Beitrag geht Helmut Heid (Universität Regensburg) der Frage nach, ob von der „Standardisierung wünschenswerter Lernoutputs“ ein nennenswerter Beitrag „zur Qualitätsverbesserung des Bildungssystems“ zu erwarten ist. Seine Antwort fällt eher skeptisch aus. Standardisierte Outputoperationalisierungen bieten zwar Anlässe, die Ursachen und Gründe für Erfolge und Misserfolge in Lehr-Lern-Prozessen genauer zu untersuchen, tragen zu deren Klärung unmittelbar jedoch nicht bei. Statt auf eine implizite Legitimität von Bildungsstandards bei der Bemessung der Outputleistungen von Bildungssystemen zu setzen, wird empfohlen, der „Lehrpersonenkompetenz“ eine größere Aufmerksamkeit zu schenken und frühzeitig mit der „Prozessevaluation des Standardisierungsprozesses“ zu beginnen.

Der Beitrag von Jörg Ruhloff (Universität Wuppertal) untersucht „Grenzen der Standardisierung im pädagogischen Kontext“. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Maß gebenden und Maß nehmenden Operationen problematisiert er die Gleichsetzung von „Standard“ und „Qualität“. Mit Verweis auf die kommunikative und interaktive Grundstruktur pädagogischer Lehr-Lernprozesse wird gezeigt, dass sich das „Verstehen einer Lernbewegung“ nicht angemessen nach deren „Nähe oder Ferne zu einem Standard“ bemessen lässt. Der Beitrag schließt mit der Forderung, an der „kategorialen Differenz zwischen einem Freiraum des Sinnermessens und einem Funktionsraum normierter Leistungserfüllung“ festgehalten.

Im dritten Beitrag arbeitet Peter Zedler (Universität Erfurt) „vernachlässigte Dimensionen der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung“ heraus. Kritisiert werden die „Ausblendung pädagogischer Leistungsmaßstäbe“, eine Verkürzung der „erzieherischen Dimension von Schule und Unterricht“ sowie Fehlschlüsse, die mit einer unmittelbar normativen Auslegung der PISA-Ergebnisse einhergehen. Der Beitrag schlägt „Korrekturen in den Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung“ vor, die auf eine „Verbesserung der Unterrichtsqualität“ und die „Weiterbildung“ der Lehrer zielen.

Im vierten Beitrag vergleicht Hans Merkens (Freie Universität Berlin) die von der internationalen Schulleistungsvergleichsforschung entwickelten Instrumente mit traditionellen Rückmeldesystemen und Systemen aus außerschulischen Kontexten Er weist auf die Schwierigkeit hin, Leistungen, die innerhalb und außerhalb des Bildungssystems erbracht oder verursacht werden, trennscharf voneinander abzugrenzen. An Untersuchungen zum Leistungsstand im Fach Deutsch Ende Klasse 4 wird die unhintergehbare und „notwendige Komplexität unterrichtsbezogener Rückmeldungen“ verdeutlicht, der zufolge der „Wert von Rückmeldesystemen nur schwer bestimmbar“ und die an diese zu stellenden Anforderungen nur schwer erfüllbar sind.

Fritz Oser (Université de Fribourg) erörtert in seinem Beitrag die Frage nach Kompetenzprofilen von Lehrerrinnen und Lehrern. „Kompetenz, Kompetenzprofile, Standards“ werden als Sachverhalte gefasst, welche nicht nur auf die Schulen und das Bildungssystem, sondern auch auf die Lehrerausbildung und den Lehrerberuf auszulegen sind. Hier wie dort sind Standards keine Instrumente, die in Absehung von situativen Kontexten wirksam und ohne intuitive und spontane Reflexionen der Akteure eingesetzt werden können. Kompetenzprofile von Lehrerinnen und Lehrern beziehen sich vielmehr auf Formen einer „pädagogischen Notwendigkeit“, die auf die Übernahme von Verantwortung für das eigene pädagogische Handeln bezogen ist. Für die Standardisierung bedeutet dies, dass immer auch Handlungsbereiche identifiziert werden müssen, in denen eine Standardisierung nicht sinnvoll ist.

Der Beitrag von Dietrich Benner (Humboldt-Universität zu Berlin) interpretiert „Unterricht – Wissen – Kompetenz“ als eine Trias, in der Unterricht und Kompetenz über schulisch zu vermittelnde Formen des Wissens verbunden sind. Am Beispiel von zwei Aufgaben wird illustriert, dass didaktische Aufgaben und Testaufgaben unterschiedlichen Logiken folgen, die es miteinander abzustimmen gilt. Als domänenspezifisch auszulegende Basiskompetenzen schulischer Lehr-Lern-Prozesse werden „Urteilskompetenz“ und „Partizipationskompetenz“ genannt. Erstere ist an die Unterscheidung zwischen alltäglichen, szientifischen, ideologiekritischen, voraussetzungskritischen und handlungsbezogenen Wissensformen zurückgebunden, letztere auf die Sicherung von Übergängen in gesellschaftliche Handlungsfelder angewiesen.

Der zweite Teil des Bandes präsentiert fachdidaktisch ausgerichtete Abhandlungen aus den Lehr-Lern-Bereichen Religion, Ethik, Schulsport, Mathematik und berufliche Bildung.

Im ersten Beitrag stellen Dietrich Benner, Sabine Krause, Roumiana Nikolova, Tanja Pilger, Henning Schluß, Rolf Schieder, Thomas Weiß und Joachim Willems (Humboldt-Universität zu Berlin) erste Ergebnisse aus einem Forschungsvorhaben vor, das religiöse Kompetenz domänenspezifisch durch die Teilkompetenzen „Deutungs- und Partizipationskompetenz“ definiert und beide auf die Bezugsreligion des Unterrichts, andere Religionen sowie außerreligiöse Handlungsfelder auslegt. Auf der Grundlage didaktischer Aufgaben und Testaufgaben sowie ausgewerteter Schülerantworten werden mit Hilfe der Rasch-Skala für die hermeneutische Kompetenz insgesamt acht Schwierigkeitsniveaus identifiziert und anschließend an Beispielaufgaben illustriert.

Im zweiten Beitrag zeigt Michele Borrelli (Università degli Studi della Calabria) in Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Versuchen einer „Transzendentalisierung“ und „Detranszendentalisierung der Wahrheitsfrage“, dass die im Moral- und Ethikunterricht zu vermittelnden Kompetenzen angemessen nur über aporetische Urteils- und Diskursformen definiert werden können. Deren Funktion ist es nicht, globale Weltprobleme einer „definitiven Lösung zuzuführen“, sondern „den Streit zwischen unterschiedlichen Positionen und Perspektiven“ im Bereich der Moral zu kultivieren und zu zivilisieren.

Anschließend analysiert Elk Franke (Humboldt-Universität zu Berlin) Möglichkeiten und Grenzen einer „Qualitätssicherung aus der Perspektive ästhetisch-expressiver Schulfächer“. Am Beispiel des Schulsports wird gezeigt, dass sich normative von reflektierenden Standards dadurch unterscheiden, dass erstere ohne eine differenziertere „Situationsheuristik“ auskommen, letztere hingegen „leibbezogen“ und „reflexiv“ zugleich ausgerichtet sind.

Im vierten Beitrag berichtet Binyan Xu (East-China-Normal University Shanghai) über Reformen des chinesischen Mathematikunterrichts. Die Rezeption der Ergebnisse von PISA leitete auch in China eine Abkehr von der traditionellen Wissens- und eine Hinwendung zur neuen Outputorientierung ein. Aufsehen erregte dann die Tatsache, dass die Schüler von Hongkong, die als einzige in China an internationalen Vergleichsuntersuchungen teilnahmen, in Mathematik den Spitzenplatz erzielten, allerdings auf der Grundlage eines Mathematikunterrichts, der noch an der traditionellen Wissensorientierung ausgerichtet war. Gegenwärtig diskutieren Mathematiker, Fachdidaktiker und Mathematiklehrer über Kompetenzdefizite, die infolge der an PISA ausgerichteten Outputorientierung im Bereich der Grundlagentheorie entstanden sind. Die Diskurse führen gegenwärtig dazu, dass der Paradigmenwechsel von der Wissens- zur Kompetenzorientierung überprüft und in Teilen revidiert wird.

Im fünften Beitrag untersucht Christopher Winch (Kings College London) die Gleichwertigkeit bzw. Ungleichwertigkeit „akademisch und beruflich erworbener Qualifikationen“ der beruflichen Bildung in Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Ein Vergleich der Anforderungen des „National Qualifications Framework“ und der „European reference levels for Education and Training“ weist auf die Gefahr eines Verlustes an Bildung hin, der mit einer Absenkung des traditionell in Deutschland und Frankreich höheren Niveaus der Anforderungen auf dasjenige von Großbritannien verbunden sein können.

Im letzten Teil des Bandes werden einige weitergehende Fragen diskutiert, die den Horizont der gegenwärtig auf Bildungsstandards konzentrierten Debatten erweitern können.

Dabei erinnert Philippe Foray (Université Jean Monnet – Saint Etienne) an den Zusammenhang von „Gemeinsamer Bildung und Gemeinsinn“. Im Anschluss an Immanuel Kant und Hannah Arendt werden Konzepte einer Urteilskraftbildung aktualisiert, welche den öffentlichen „Unterricht als Propädeutik der Bürgerlichkeit“ ausweisen.

Anschließend unterscheidet Klaus Prange (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) zwischen der „Lesbarkeit der Welt“ und der „Literalität der Standards“, indem er die an operative Techniken des Zeigens zurückgebundene „semiotische Dimension des Lehrens und Lernens“ betont.

Im letzten Beitrag untersucht Roland Reichenbach (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) die „Qualität schulischer Austauschprozesse zwischen Lehrpersonen und Schülern und Schülerinnen“. Zur Eigenart dieser Prozesse gehört, dass in ihnen „Führen und sich Führen-Lassen“ über „Tauschakte“ vermittelt sind, für die „Täuschungen“ konstitutiv sind. Ihre Analyse kann Aufschluss über die Entstehung von „Bildungsungleichheiten“ geben.

Die Autoren des Bandes hoffen, dass die Beiträge

zur Versachlichung der gegenwärtigen Diskussion über „Bildungsstandards als Instrumente zur Qualitätssicherung im Bildungswesen“ beitragen,

den Blick für „Chancen und Grenzen“ der neuen Instrumente schärfen,

– „Beispiele“ für eine domänenspezifische Kompetenzniveaus und Standards entwickelnde, theoretisch wie empirisch ausgewiesene Bildungsforschung präsentieren sowie

– „Perspektiven“ für deren Einbettung in weiter ausholende Problemstellungen einer reflexiven Erziehungswissenschaft eröffnen.


 

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2008, n°3