Mit
meinem Thema stelle ich die Frage
nach der pädagogischen Substanz des
Unterrichts. Das mag den meisten
Lesern, die sich wie ich selbst als
wissenschaftlicher Pädagoge
verstehen, merkwürdig erscheinen.
Pädagogen wissen nach dem Studium
der ‚Alten’, worin sie bestehen
könnte undsollte. Sie
haben ein mehr oder weniger
elaboriertes und reflektiertes
Verhältnis zu den Aufgaben der
Erziehung und Bildung durch
Unterricht sowie der Didaktik als
Theorie und Instrumentarium der
Vermittlung. Ich frage trotzdem nach
der pädagogischen Substanz, weil
diese von so manch anderen in
unserem Fach entweder gar nicht mehr
als Zentralgegenstand ihrer
theoretischen Arbeiten gesehen oder
aber vorweg als nicht mehr
zeitgemäße Beschreibungsform, als
für das Begreifen des
Unterrichtsgeschehens letztlich
unwesentliches Sprachspiel, ja gar
als wissenschaftlich nicht fassbar
behandelt wird. Dagegen hilft wenig
begriffliche Emphase, das
Insistieren auf ein Anliegen oder
der mahnende Hinweis auf die
Tradition. Wenn überhaupt etwas
helfen kann, dann der empirische
Nachweis der Relevanz pädagogischer
Tatbestände zur Erklärung von
Unterricht. Auch deswegen
beschäftigt mich die Möglichkeit der
empirischen Zugänge zur
pädagogischen Substanz.
Freilich kann hier erst recht nicht
von einem geteilten Verständnis oder
auch nur Problembewusstsein
ausgegangen werden, nicht bei
Empirikern und auch nicht bei
Theoretikern. Dazu eine
Illustration:
Als
wir kürzlich den sich bewerbenden
Schulpädagogen für einen
Probevortrag in Frankfurt als Thema
„Grundfragen einer empirischen
Didaktik“ vorlegten, konnten die
meisten von ihnen nichts mit der
Vorstellung einer empirisch
ausgerichteten Didaktik anfangen.
Sie dachten gleichsam automatisch:
Didaktiker sind doch Konstrukteure
und keine Rekonstrukteure!? Dass es
innerhalb der allgemeinen Pädagogik
eine erkenntnistheoretisch
ausgerichtete, empirisch höchst
gehaltvolle und fruchtbare
theoretische Reflexionstradition
über Didaktik gab, war
augenscheinlich keinem bekannt. Dass
die Wirklichkeit des Didaktischen
zum Gegenstand empirisch gestützter
Theoretisierung gemacht werden
könnte, erschien ihnen ein mehr als
nur gewöhnungsbedürftiger Gedanke zu
sein. So als wollten sie sagen: Wenn
man denn empirisch mit der Didaktik
werden wolle, könne man sich doch
bei der Lehr-/Lernforschung
bedienen?!
Vor
diesem Hintergrund könnte es
aufschließend sein, wenn im
Folgenden zunächst einfach und
grundsätzlich expliziert wird, was
man sich unter der pädagogischen
Substanz von Unterricht vorstellen
kann. Danach sei mit allgemeinen
Überlegungen die empirische
Zugänglichkeit des Unterrichts als
pädagogischen Geschehens erläutert.
So vorbereitet möchte ich den Leser
mit meiner Vorstellung von
empirischen Zugängen in methodischer
und materialer Hinsicht bekannt
machen.
II
Die
Rede von der pädagogischen Substanz
verweist auf oder postuliert
zweierlei.
Erstens, dass das Verstehen der
Eigenstruktur des
Unterrichtsgeschehens die
pädagogische Denkform erfordert. Für
die theoretische Durchdringung von
Unterricht sind mithin nicht die
Soziologie, konkret wie gegenwärtig
beliebt, die Systemtheorie und auch
nicht die Psychologie in der Form
der pädagogisch-psychologischen
Lehr-Lernforschung zuständig.
Unterricht - wie andere soziale Orte
auch - sozialisiert und ermöglicht
Lernen. Aber er tut dies in der
Spezifik seiner pädagogischen
Rahmung und Formung.
Zweitens wird unterstellt, dass das
Unterrichten nicht nur mit seinem
normativen Erwartungshorizont,
sondern auch in seiner realen Form
eine pädagogische Substanz besitzt.
Sie zeigt sich im Sinne der
notwendigen Entfaltung der
„Eigenstruktur“ des Pädagogischen
(Blankertz 1982, S. 306f) in der
Praxis. So sehr im jeweiligen
Unterricht Sein und Sollen auch
immer auseinander klaffen mögen, die
pädagogischen Erwartungen an das
Geschehen, stülpen diesem nicht
etwas bloß als Ideal über. Als für
die Praxis von Schülern und Lehrern
konstitutive Unterstellungen
bestimmen sie auch das Handeln der
Akteure: Die Schüler wissen, dass
sie erzogen werden und wollen nicht
bloß sozialisiert oder in ihrem
Verhalten modifiziert werden. Sie
benötigen einen absichtsvoll
agierenden Lehrer. Der stellt sie
vor Probleme des Verstehens überall
dort, wo sie mehr als nur etwas
grundsätzlich bereits Beherrschtes
übend sichern und erweitern. Die
Aufgaben, die der Lehrer den
Schülern vorgibt, bestehen oder
versagen vor der Verpflichtung,
Zugänge zu den durch sie
repräsentierten Gegenständen des
Wissens zu ermöglichen. Die
Normierung der Praxis durch
Erziehung, Bildung und Didaktik ist
ihr mithin inhärent, alle drei
Grundbegriffe sind keine bloßen
Pathosformeln.
Bei
den Klassikern oder auch
Zeitgenossen wie Dietrich Benner
finden wir schöne kurze Formeln für
die fragliche pädagogische Substanz.
„Der Begriff ‚erziehender
Unterricht’ wird im folgenden
synonym mit dem Begriff eines
Unterrichts, der bildet, gebraucht,
denn wie die anderen Dimensionen
pädagogischen Handelns lässt sich
auch diejenige des Unterrichts weder
nur erziehungs- noch nur
bildungstheoretisch fassen, sondern
nur im Hinblick auf alle drei
systematischen Fragestellungen der
Pädagogik adäquat bestimmen“ Benner
1988, S.210). Benner nennt sie die
Theorien der Erziehung, der Bildung
und der pädagogischen Institutionen.
Begreift man letzteres als soziale
Formgebung, so fehlt in meinen Augen
lediglich eine vierte Dimension für
jene Substanzbestimmung: Die
Didaktik, die als das herbartsche
Dritte das Geschäft des
Unterrichtens organisiert.
Mit
gefällt an einer solchen
Zugangsweise, dass hier ein
konstellatives Zusammenwirken von
Strukturmerkmalen postuliert wird,
damit etwas Allgemeines im Wissen
darum, dass es sich je
unterschiedlich konkretisiert. Es
ist notwendig für die Form, dass
immer alles beteiligt ist, aber es
ist dies je unterschiedlich
gewichtet der Fall. Es gilt immer
das Gebot der Entfaltung der Teile
zu einem Ganzen: sei es der
Fallstruktur einer konkreten
Unterrichtsstunde oder eines
Unterrichtsmodells.
Strukturtheoretisch gesprochen
bedeutet dies, dass eine adäquate
Allgemein-Modellierung nur vorliegt,
wenn an jedem beliebigen empirischen
Fall, und sei es eines „schlechten“
Unterrichts oder eines solchen, der
durch eine der Dimensionen dominiert
wird, sich erweisen lässt, dass die
Form immer alle Dimensionen
emergiert.
Schon
an den „Theorien und Modelle der
Didaktik“, die Herwig Blankertz
(1969/75) diskutierte, lässt sich
das gut beobachten. Mögen sie eher
auf Bildung, Lernen,
Informationsverarbeitung „geladen“
sein, sie kommen bei der
Unterrichts-Planung nicht ohne die
Dimensionen aus, die sie jeweils
nicht in den Vordergrund stellen.
Was für die „Theorien“ und
„Modellen“ gilt, muss noch nicht von
der Wirklichkeit des Unterrichts
erwartet werden. Pädagogische
Theorien können bekanntlich manches
leisten, um sich über die
Wirklichkeit zu täuschen. Wer wollte
annehmen, dass die „Theorien und
Modelle der Didaktik“ auch
diejenigen sind, denen Lehrer als
Planungskonzepten folgen! Letztlich
würde ich es von dem empirischen
Gehalt des Allgemein-Modells
abhängig machen wollen, ob wir ein
Recht haben, die pädagogische
Substanz des Unterrichts zu
postulieren.
In
den „Modellen“ und auch in den
„Praxen“ lässt sich gleichermaßen
die Tendenz erkennen, eine möglichst
stimmige Einheit der Dimensionen
herbeizuführen. Sobald man aber
genauer hinschaut, erweist sich das
konstellative Zusammenwirken als ein
Arbeiten an strukturell nicht
übersteigbaren Spannungen und
Widersprüchen. Diese resultieren in
der Praxis vor allem daraus, dass
die Lehrenden in vielfacher Weise
die Erfahrung machen, nicht zu
können, was sie mit Blick auf ihre
pädagogischen Überzeugungen oder
Anliegen tun möchten. Nicht zuletzt
sind die Schüler nicht so, wie man
sie sich gerne wünschte: sie sind
nicht mehr recht erzogen, in manchen
Fällen absichtsvoll oder unschuldig
begriffsstutzig, mit ihrem Geist
nicht bei der Sache usf. So entsteht
die Spannung zwischen
Bildungsanspruch und Bildungsstand.
Die wird nicht selten mit
didaktischen und erzieherischen
Mitteln bearbeitet, die der Bildung
widersprechen.
Sodann werden nicht selten die
Begriffe so geformt, dass sie
entgegen ihrem konstitutiven
Problemgehalt passend gemacht
werden, etwa indem Erziehung um das
zu ihr gehörende Heterome: die
Unterwerfung unter Zwänge, aber auch
das Autonome: die Unterstellung von
Mündigkeit gekürzt wird. Der
„erziehende Unterricht“ als erfüllte
Einheit von Erziehung und Bildung
gehört ebenso zur
Strukturbeschreibung des
Unterrichts, wie die Möglichkeit
eines Gegeneinander von Bildung und
Erziehung. Und wo die Didaktik die
Schüle zur mechanischen
Aufgabenerfüllung erzieht, schwindet
die Bildung.
Der
Blick auf die Praxis des Unterrichts
führt den Beobachter vor die
Einsicht einer widersprüchlichen
Einheit von Erziehung, Bildung und
Didaktik, die die theoretische
Pädagogik gerne heilen möchte, ohne
es wirklich zu können. Die
Dimensionen stehen objektiv
widersprüchlich zueinander und doch
werden sie faktisch in der Praxis so
miteinander vermittelt, dass sie das
„Funktionieren“ des Geschehens
ermöglichen. Wie immer der Lehrende
auch emphatisch motiviert sein mag,
seine Vermittlungstätigkeit
erziehend wie auch bildend zu
gestalten, der Unterricht zwingt ihn
unter gegebenen Umständen dazu,
bescheiden zu werden und wenigstens
das Durchnehmen der Stoffe mit
hoffentlich motivierendem Material
zu sichern. Adornos Diktum, nachdem
nur am Widerspruch zwischen dem, was
etwas zu sein beansprucht und dem,
was es in Wirklichkeit ist, Wesen –
wir sagen pädagogische Substanz -
erkannt werden kann, enthält die
Aufforderung, die Erschließung des
Geschehens auch darauf zu richten,
wie Unterricht seine Ansprüche
hervorbringt und wie er sie
gleichzeitig wieder kassiert.
So
wie es in der Theorie die Tendenz
gibt, das pädagogische Geschehen
begrifflich zu harmonisieren, finden
wir in praktischen Konzepten die
vor, die Spannungen durch
Vereinseitigungen zu beheben. Zu
beobachten ist gegenwärtig das
Schwinden der fachlichen Ansprüche
mit Rückgriff auf eine zur
Athropolologie verklärte Vorstellung
einer eingeschränkten Bildsamkeit
der heutigen Schüler, denen man vor
allem mit erzieherischen Maßnahmen
elementare Methodenkompetenzen
vermitteln muss, um überhaupt weiter
zu kommen (vgl. Gruschka 2008;
Twardella 2008). Die Vereinseitigung
kann bis zu dem Punkte gehen, bis
die Einheit beginnt sich aufzulösen.
Die Erziehung zur Methode
verselbständigt sich und dient nicht
mehr der Erschließung der Inhalte,
didaktische Präparationen und
Operationen der Inhaltsbearbeitung
vereinfachen die Inhalte solange,
dass das mit ihnen sich ergebende
Bildungsproblem nur noch gegen die
Didaktik sichtbar wird. Die
Ausbildung autonomer Urteilskraft
wird durch die Ausrichtung auf ein
gewünschtes korrektes Denken
unterlaufen. Aus der Hilfe zur
Aneignung und Zueignung wird der
Versuch der moralischen Belehrung.
Aber das Pädagogische löst sich
solange nicht auf, wie dadurch die
strukturelle Einheit selbst nicht
außer Geltung gesetzt wird, es also
nicht zu blanker Indoktrination
kommt, der Unterricht sich in
klippertsches Methodentraining
auflöst, er also als Inhalt nur noch
sich selbst kennt oder von
Unterricht auf Quiz und Show, mithin
Unterhaltung oder in der Form vom
mind-maps auf kognitive
Selbsterfahrungsübungen umgestellt
wird. Dann freilich würde man nicht
nur die pädagogische Substanz des
Geschehens vermissen, sondern auch
nicht mehr von Unterricht
sprechen.
Kurzum, meine Rede von der Substanz
ist strukturtheoretisch gemeint, sie
hebt dabei auf die empirische
Konstitution der Form Unterricht ab.
III
Zu
den empirischen Zugängen. Die kann
man, wie es heute vor allem
diskutiert wird,
wissenschaftspolitisch behandeln
oder, was leider zu wenig geschieht,
methodologisch. Schließlich kann man
versuchen, sie mit einem breiteren
Erfahrungsbegriff zu bestimmen.
Beginnen wir mit Letzterem. Mit
Erfahrung soll ausgedrückt werden,
dass jahrelange Anschauung und
reflektiertes Verarbeiten des
Geschehens den dominanten Zugang zum
Feld bildet. Das kann von der
literarischen Verarbeitung eigenen
Erlebens bis zur regelmäßigen
Besuchen von Unterricht etwa im
Rahmen von schulpraktischen Studien
gehen. Wer Brechts Erinnerungen an
„seine besten Lehrer“ liest, der
vergisst diesen Text nicht so
leicht, weil er mit schwer
überbietbarer Prägnanz das
Unterrichten zweier Lehrer und
desjenigen, was diese den Schülern
wirklich gelehrt haben,
charakterisiert. Wer jahrelang
regelmäßig hinten in den Klassen bei
unterschiedlichsten Lehrern saß, der
verfügt mit der Zeit über eine
geordnete Erfahrung. Es bedarf
starker Argumente, um eine auf
dieser Basis formulierte subjektive
Modellierung infrage stellen zu
können und bei Kritik an ihr nicht
in den Verdacht zu geraten, man
spreche wie der Blinde von Farbe.
Das
Unproduktive solcher, nicht selten
mit Dogmatismus und Kritikabwehr
bewährten Empirie besteht in der
Regel darin, dass über die so
generierten Urteile in der Regel
nicht anders, denn mit den ähnlich
zustande gekommenen eigenen
Wertungen geurteilt wird. Das hängt
vor allem damit zusammen, dass die
Beobachter über kein „tertium
comparationis“ verfügen, um an ihm
die Geltung der Urteile prüfen zu
können. Es besteht der Mangel an
einem gültigen Protokoll, auf das
sich beide Urteilenden gemeinsam
beziehen könnten.[2]
Wollen wir methodologisch über den
angemessenen empirischen Zugang
entscheiden, müssen wir die Weisen
der primären Erfahrung
wissenschaftlich ausschärfen. Das
beginnt mit theoretisch explizierten
und begründeten Annahmen über die
Konstitution der Gegenstände und
setzt sich fort in den Gütekriterien
für die Beobachtungsdaten und den
Verfahren der Interpretation. Für
die Methodologie der
Unterrichtsforschung werden in
meinen Augen vor allem die folgenden
Voraussetzungen bedeutsam.
(1)
Zunächst die Einsicht in die
„Dignität der Praxis vor der
Theorie“. Die Eule der Minerva
sollte wirklich erst in der
Abenddämmerung ihren Flug beginnen,
nachdem das Tagwerk verrichtet
wurde. Startet sie in der
Morgenröte, so sieht sie nur, was
sie im Vorgriff auf die
Beobachtungstatsachen erwartet und
sehen will. Wenn wir wissen wollen,
ob und wenn ja wie Unterricht
erzieht und bildet, dürfen wir
methodisch nicht so tun, als ob wir
es schon wüssten. Wenn wir es dann
wissen, können wir mit diesem Wissen
Beobachtungsinstrumente entwickeln,
mit denen wir die stochastischen
Erscheinungen und Werte in der
Wirklichkeit bestimmen können. Die
„Dignität der Praxis vor der
Theorie“ soll damit die Gefahr
bezeichnen, dass ohne sie der Praxis
mit einer durch empirische
Instrumente ausgedrückten Theorie
dekretiert wird, was sie sei, die
Praxis sich aber weder durch solche
Forschung begriffen noch verstanden
sieht.
(2)
Des Weiteren gehe ich von der
Priorität der Sache vor der Methode
aus („dem Vorrang des Objekts“
Adorno). Erst mit den theoretisch
aufgeklärten Erwartungen gegenüber
dem Untersuchungsfeld lässt sich
sinnvoll bestimmen, welche Methode
die für ihre Erschließung
angemessene ist. Adornos
Positivismuskritik richtete sich
nicht zuletzt auf die Zurichtung des
Untersuchungsgegenstandes durch eine
zur Geltungsinstanz verselbständigte
Methode. Manche gegenwärtig heftig
tätigen Forscher irritieren mich mit
dem Selbstbewusstsein und der
Selbstverständlichkeit, wie sie noch
so komplizierte Gegenstände (sagen
wir mal „Kompetenz“) auf das
Prokrustesbett ihres
Methodenverständnisses legen. Das
klingt wie die Baumarkt-Werbung:
Geht nicht? Gibt’s nicht!
(3)
Wenn wir die pädagogische Substanz
von Unterricht empirisch
kontrolliert untersuchen wollen,
müssen wir die paradoxe Situation
bewältigen, dass wir theoretische
Modellierungen streng von
Erfahrungstatsachen abhängig machen,
zugleich aber uns soweit mit
theoretischem Besteck ausrüsten,
dass wir gerichtet Erkenntnisse
herstellen können. Es gilt die eine
starke Präfigurierung der Sache
durch Begriffe genauso zu vermeiden
wie die Selbstillusionierung, die
unbefangene Anschmiegung ans
Material, das Warten auf die
Erscheinung und das stete Basteln an
einer Theorie sowie die „dichte
Beschreibung“ würden schon für die
Erklärung der Sache sorgen. In
Analogie zu Sokrates’ Paradox kann
man sagen: Man muss ziemlich genau
wissen, was man wissen will. Das
eingangs erinnerte Allgemein-Modell
für Unterricht als pädagogischer Ort
scheint mir eine gute Grundlage für
eine solche Empirie zu sein. Auf
dieser Basis haben wir zu prüfen,
welche Untersuchungsmethoden
geeignet sind, die konstellative
Einheit von Bildung, Erziehung und
Didaktik spezifiziert zu erforschen.
(4)
Damit hängt ein weiterer Komplex
zusammen, den ich als Problem der
Logifizierbarkeit der Sache
bezeichnen möchte. Sie geht mit der
Frage einher, wie dem allgemeinen
Gebot der intersubjektiven
Nachvollziehbarkeit der Aussagen
Geltung verschafft werden kann.
Von
welcher Natur ist das
Unterrichtsgeschehen? Es ist
einerseits ein in seiner Komplexität
wissenschaftlich nicht einholbares
Geschehen, eines, das in dem Sinne
chaotisch erfolgt, dass sein Ablauf
sich in einer Unzahl von
Möglichkeiten diffundierend
entfaltet. Es ist durch Unsicherheit
und Ungewissheit ausgezeichnet.
Andererseits folgt der Unterricht in
all seiner Vielfalt einer Logik,
besser gesagt mehreren. In gewisser
Weise habe ich schon darüber
entschieden, als ich nach der
pädagogischen Substanz fragte. Wir
postulieren, dass Erziehung, Bildung
und Didaktik durch solche Logiken
ausgezeichnet werden. Können wir
das? Ich denke ja. Sofern wir den
starken Begriff der Logik meiden
wollen, kann man immerhin gut
angeben, dass es in allen drei
Bereichen Grundtatbestände gibt, die
bestimmte Regeln ihrer möglichen
Bearbeitung mit sich bringen.
-Ohne
etwas von freier Wechselwirkung gibt
es keine Bildung, sondern nur Lernen
als Konditionierung!
-
Bildung postuliert Verstehen, dieses
geht selten ohne Krisen ab.
-Ohne
die Konstruktion eines
Vermittlungsmedium als helfende
Abkürzung keine Didaktik!
-Es
kann keine Deckung zwischen
didaktischem Gegenstand und
repräsentierter Sache geben.
-Ohne
die kontrafaktische Unterstellung
von Autonomie keine Entwicklung von
Autonomie.
-Ohne
(Selbst)disziplinierung keine
Freiheit! Etc.
Wie
regelt der Unterricht all das?
Unterricht in Schulklassen setzt
weitere konstitutive Regeln:
-Es
kann immer nur einer reden.
-Das
Zuhören wird zum dominanten Modus
des Lernens.
-
Kontinuitäten müssen angesichts der
sachlichen und temporalen Brüche
hergestellt werden usf.
Daneben finden wir Regeln vor, die
aus kontingenten Vereinbarungen
zwischen Lehrern und Schülern folgen
und Ausdruck eines je besonderen
pädagogischen Settings sind. Mein
Lieblingsbeispiel: Wer die
Indianerhäuptlingshand erhebt,
signalisiert damit der Klasse, dass
es ihm zu laut wurde, die Lauten in
der Klasse haben sich darauf
einzurichten und müssen leiser
werden. Es funktioniert
hervorragend.
Sofern wir von Regeln oder Logiken
ausgehen wollen, mit denen sich
Erziehung, Bildung und Didaktik
gleichsam prozedural
materialisieren, müssen wir sie
zureichend theoretisch (als Regel
und Logik) und empirisch (in der
Sprache des Falles) explizieren.
Dabei hilft die theoretische Bildung
des Beobachters, die sich mit der
Untersuchungstätigkeit
kontinuierlich ausweitet. Neben die
theoretische Bildung tritt die
Möglichkeit des Bewusstmachens der
erlebten Pragmatik des Geschehens
auf der Basis von 13 Jahren
Unterricht. Wir verfügen als
Interpreten über einen geteilten
Horizont von Bedeutungen, der die
Entdeckung und Aufschließung des
pädagogischen Sinngehalts und die
Prüfung von Lesarten erleichtert.
Dieser Horizont eröffnet bei aller
positionellen Differenz der
Beobachter die Möglichkeit einer
Verständigung und damit
intersubjektiven Überprüfung der
gefällten Urteile.
Meines Erachtens bedeutet die
Identifikation des empirischen
Gehalts von Erziehung, Bildung und
Didaktik noch viel
Entwicklungsarbeit für unser Fach.
Es ist ein Feld produktiver joint
ventures zwischen allgemeinen
Pädagogen und Empirikern. Es ginge
damit darum, die empirischen
Korrelate für jene theoretisch
fixierte pädagogische Substanz zu
identifizieren.
Wenn
man allererst die Spannweite dieser
empirischen Korrelate von Bildung,
Erziehung und Didaktik ausmessen
muss, ist - um es zu wiederholen -
methodologisch ausgeschlossen, eine
Forschung nach dem Typus zu
betreiben, die sich mit ihren Skalen
längst theoretisch darüber
informiert fühlt, was sie
untersuchen will. Dann ist nur noch
über die Gradierung der
Merkmalsausprägungen zu entscheiden
und ihr Zusammenwirken auszumessen.
Das bedeutet angewandte Forschung.
Sie übernimmt die in den Skalen
eingegangenen theoretischen
Konstrukte und kommt ohne eine
eigene, aus der empirischen
Beobachtung selbst erwachsene
theoretische Modellierung aus. In
unserem Fall aber wäre das nur
schwer zu rechtfertigen. Wenn wir
uns dafür interessieren, wie Bildung
im Unterricht emergiert, wie diese
mit kohärenter Erziehung verbunden
wird, aber auch wenn wir wissen
wollen, wie es dazu kommt, dass eine
angestoßene Bildungsbewegung wieder
abgebrochen wird und womöglich nach
welchen Regeln solches stattfindet,
müssen wir die Wirklichkeit des
Begriffs allererst im Begreifen der
Wirklichkeit rekonstruieren.
Dann
können wir keine Lehr- Lernforschung
nach dem Muster betreiben, dass wir
Inputvariabeln nach gegebenen Tests
messen, verschiedene
Prozessvariablen ratend ermitteln
oder quasi experimentell herstellen,
die Outputgrößen als Einstellungen
und Testfähigkeiten bestimmen und
danach Modellierungen von
Wirkungszusammenhängen vornehmen.
Das
Verfahren, das aus dem Objekt der
pädagogischen Substanz zunächst
einmal folgt, ist nicht approbierte,
sondern Grundlagenforschung und ihr
Muster ist das der sorgfältigen
Fallrekonstruktionen.
(5)
Hierfür sei ein weiteres Argument
hinzugefügt. Wenn richtig ist, dass
Unterricht als ein konstellatives
Geschehen verstanden werden sollte,
in dem eine Totalität der
Bezugsgrößen wirkt, dann ist diese
Konstellation je gültig an ihrem
besonderen Ausdruck zu studieren und
zu erschließen. Man kann nicht - wie
ich es von meinem Frankfurter
Kollegen Klieme höre - behaupten,
man untersuche Konstellationen, bloß
weil man statistische Größen und
Wahrscheinlichkeiten vorher
atomisierter Items miteinander in
Beziehung setzt. Multivariate
Wirkungsmodelle, nach Maßgabe ihrer
statistischen Wahrscheinlichkeit
bestimmt, bestehen geradezu in der
Nivellierung der Effekte je
besonderer Fälle. Sie sind
Generalisierungsversuche, aber keine
Erschließungen von Totalitäten.
Dergleichen Generalisierung oder
auch nur typologische
Verallgemeinerung wäre erst zu
rechtfertigen, sofern dafür die
Grundlagen an möglichst vielen
Fällen geklärt sind. Kohlberg musste
erst einmal eine Stufe des
moralischen Urteiles als eigene
Logik und Schema gültig
rekonstruieren, bevor er beginnen
konnte, ankürzend über Indikatoren
zu fragen, wie groß der Anteil einer
Untersuchungspopulation ist, der
dieses Muster teilt.
(6)
Wenn man also zunächst vom Fall
ausgeht, führt das methodologisch
auf die Frage, wie dessen innere
Prozesslogik zu bestimmen ist und
wie im Vergleich von Stunden eine
generalisierende Auslegung des
untersuchten Sachverhalts.
Hier
möchte ich nur betonen, dass schon
die erste Form der Empirie uns mit
dem Evidenzerlebnis ausstattet, dass
ein Fall ein identifizierbares und
mit seiner Regelhaftigkeit ein
generalisierbares Schema anbietet.
Jede Unterrichtsstunde ist ein
einmaliges, nicht reproduzierbares
Individuum, aber auch als solches
Ausdruck einer Regelhaftigkeit. Das
wissen wir alle als langjährige
Schüler. Sobald wir uns einen Lehrer
verständlich gemacht hatten, konnten
wir ziemlich genau antizipieren, was
heute und jetzt gleich geschehen
werde und was er wohl tun würde,
wenn wir etwas Bestimmtes tun
würden. Zwischen den verschiedenen
Lehrern gab es gravierende
Unterscheide und in der Erinnerung
doch große Ähnlichkeiten:
vergleichbare Typen eben und so
etwas wie „typisch Unterricht“, also
eine Allgemeinmodellierung.
Das,
was sich der beobachtenden Erfahrung
mitteilt, ist in methodologischem
Sinne als Voraussetzung der
Regelhaftigkeit zu nutzen. Die
Konstellation besitzt mithin eine
eigene Logik, die verständlich
macht, warum geschieht, was
geschieht. Während die
probabilistische Forschung
eigentlich von Kausalität schweigen
müsste, können wir in der
Fallrekonstruktion eine
Strukturbildungs-Gesetzmäßigkeit
ausmachen, die uns während unserer
Arbeit an Transkripten in ihrer
Prägnanz immer wieder überrascht.
(7)
Und noch einen Nachschlag zur
intersubjektiven Nachvollziehbarkeit
der Analysen. In der Diskussion hat
sich ein Methodenpositivismus
vielfach über den pragmatischen Sinn
des Gebots gelegt. Es heißt
vielfach, dass nur bei statistischen
Daten und Verfahren
Intersubjektivität gegeben sei, weil
sie technisch versichert wird. Das
lässt sich grundsätzlich bezweifeln
und als Konformitätsbetrieb
ironisieren. Eine hohe
Raterübereinstimmung etwa bestätigt
nur, dass es gelungen ist, allen
Beobachtern dieselbe Brille
aufzusetzen, nicht aber, dass sie
alle gleichermaßen oder überhaupt
gut sehen. Der pragmatische Sinn der
Forderung liegt an einer anderen
Stelle. Er besteht darin, zu den
Voraussetzungen der Urteilsbildung
zurück zu gehen und an diesen zu
prüfen, ob die Interpretation
gerechtfertigt, ja zwingend ist oder
nicht. Das aber lässt sich letztlich
nur bewerkstelligen, indem man sich
genauso wie der Urteilende mit den
Daten beschäftigt und sie wie
dieser, ggf, mit diesem auswertet.
Wer in der stochastischen Forschung
die Auswertungen mit vollzieht, hat
es neben den oft gegen die
Lehrbuchweisheit als gehaltvoll
interpretierten Kennziffern
lediglich mit den bereits normierten
Daten und Verfahren zu tun;
eigentlich kann er nur noch den
Computer evaluieren. Hier gibt es
nichts mehr zu falsifizieren. Die
Forscher ist unschuldig an seinen
Ergebnissen. Wer eine
Fallrekonstruktion überprüfen will,
muss sich genauso wie der Interpret
der Erschließung des Materials
stellen. Das bedeutet auch, dass
eine aufgestellte Strukturhypothese
zu einem Fall nur solange gilt, wie
sie nicht explizit und damit in
einer Reanalyse bewusst
fallibilistisch erschüttert wurde.
Das verbietet, wie es dennoch
wohlfeil wurde, einfach arbiträr
einen anderen
Interpretationsstandpunkt
einzunehmen und dann zu postulieren,
man sehe ja, das
Interpretationsverfahren sei nicht
objektiv, schließlich habe man den
Fall ja anders gesehen.
IV
Ich
komme zum dritten, heiklen Punkt
einer wissenschaftspolitischen
Entscheidung über den empirischen
Zugang.
Wir
haben es gegenwärtig mit einem Boom
empirischer Unterrichtsforschung des
pädagogisch psychologischen Typs mit
sog. Hypothesen-prüfenden Verfahren
zu tun, der den Beobachter in großes
Stauen versetzen kann. Es entzündet
sich an der Fähigkeit einer kleinen
Gruppe von Promotern, ihre
Vorstellung von empirischer
Bildungsforschung auf allen Ebenen
als maßgebend durchzusetzen. Es
macht sich ein wissenschaftlicher
Monismus breit, der nicht nur jedes
andere, vor allem
rekonstruktionslogische Forschen
marginalisiert und unter einen
Generalvorbehalt, ja das Verdikt
setzt, nicht zur empirischen
Forschung zu gehören. Ich erinnere
hier nur an die jüngste
Generalabrechung in der ZfE in
Sachen
Professionalisierungsforschung durch
Baumert/Kunter und Tenorth (2007).
Mein
Punkt heute und hier soll aber nicht
darin liegen, den methodischen
Imperialismus zu attackieren. Ich
möchte vielmehr darauf aufmerksam
machen, dass diese
Forschungsrichtung mit der
Exkommunikation und Umtaufung der
anderen Forschung: sei es als
Propaganda, normative Abirrung oder
Feuilleton, zugleich sich der
pädagogischen Substanz des
Unterrichts entledigt oder
Erbschaften erschleicht.
Ich
gebe dazu nur zwei Beispiele.
In
der Expertise zu den
Bildungsstandards liefert Herr
Tenorth eine Begründung, warum die
Umstellung von Bildung auf Kompetenz
nicht nur notwendig, sondern auch
nichts Problematisches sei. Zum
einen sei sie notwendig, weil die
Bildungstheoretiker oder auch die
bildungstheoretischen Didaktiker
sich immer nur als
„Stratosphärendenker“ (P. Heimann)
Wünschenswertes ausmalen können,
während sie das Empirische
vernachlässigen. Eine sachhaltige
Beschreibung der Bildungswirkung
aber sei nach PISA unverzichtbar und
sie könne in einer Darstellung
domänenspezifischer Wissensbestände
bestehen, die als Kompetenzen der
Schüler auf unterschiedlichem Niveau
beschrieben werden. Damit würde
endlich Bildung eine vor allem für
die Messung operationable Größe. Der
Sache werde freilich kein Schaden
zugefügt, weil der Bildungsbegriff
nie etwas anderes meinte als
Kompetenz. Ich habe die steile These
an anderer Stelle genau analysiert
(Gruschka 2006). Interessant hieran
ist, dass der in diesen Dingen ja
sicherlich gut belesene Schreiber
der Expertise alles andere, was er
zum Bildungsbegriff auch weiß, dabei
verschweigt und praktisch über Bord
gehen lässt. Schaut man sich dann
an, wie in der Expertise die
Steilvorlage aufgenommen wird, so
zeigt sich, dass jede Erinnerung an
die etablierte Vorstellung von
Kompetenz als Bildung von den
anderen Autoren nahezu zum
Verschwinden gebracht wird. Die
ungemein schlichte Beschreibung der
Teilaktivitäten durch Weinert, um
einen fremdsprachlichen
Korrespondenzbrief zu schreiben,
wird in der „Expertise zu den
nationalen Bildungsstandards“ zum
Modell für Kompetenz. Auch wenn man
ohne theoretische Ansprüche auf
diese Kompetenz blickt, drängt sich
sofort die Frage auf, worin hier
noch Bildung bestehen könne. Die
Bildung gerät nicht nur nicht in
gute Hände, sondern in solche, die
sich durch ihre Unkenntnis und ihr
Nicht-Verhältnis gegenüber dem
Begriff auszeichnen.
Mein
zweiter Hinweis zielt auf das
inzwischen wie ein
wissenschaftlicher Standard
behandeltes
„Angebots-Nutzungsmodell“ (Helmke
2003; Gruschka 20007) der
Unterrichtsforschung, wie es mit
Helmke seine nun allgemein als
gültig kommunizierte Form gefunden
zu haben scheint. Es ist
atemberaubend zu sehen, dass sich
unsere Zunft an ihm danach nur noch
in der Form abarbeitet, dass Autoren
hier und da einen anderen
Unterbegriff, ein andern Pfeil oder
ähnliches vorschlagen. Ich bin
bislang der einzige, der das Konzept
grundsätzlich problematisiert hat.
Warum. Nicht etwa weil mit ihm nicht
absehbar viele Reihen von
Untersichtsforschungen generiert
werden können und inzwischen auch
werden. Das spricht eigentlich für
das Modell. Der Punkt ist: Hier wird
ein Paradigma durchgesetzt, das
beansprucht, den Unterricht
umfassend als Geschehen abzubilden
und auch die Debatte über guten
Unterricht anzuleiten. Aber es
handelt sich um ein Modell, in dem
es keine einheimischen pädagogischen
Begriffe mehr gibt. Bis auf das
Kriterium einer fachdidaktischen
Kompetenz kommt die Modellierung
ohne jeden pädagogischen Terminus
aus. Von Erziehung ist genauso wenig
die Rede wie von Bildung. Da es sich
um ein Konzept eines ehemaligen
Mitarbeiters des Weinert-Instituts
handelt, der wiederum eine
soziologische Modellierung von Fend
ausgegriffen hat, verwundert die
Abwesenheit pädagogischer
Begrifflichkeit nicht weiter.
Gespenstisch wird es jedoch, wenn
die Pädagogen - wie kürzlich
Hilbert Meyer 2004 - nichts Besseres
zu tun wissen, als das für das
eigene Fach zu übernehmen.
Die
heute dominierende empirische
Unterrichtsforschung hat kein
Verhältnis zur pädagogischen
Substanz.
Wer
aber postuliert, den empirischen
Zugang zur pädagogischen Substanz zu
suchen, gerät gegenwärtig zwischen
zwei Stühle. Er kehrt dem
didaktischen Konstruktivismus den
Rücken und erfährt die Abwehr der
empirischen Bildungsforschung. Aber
vielleicht hilft unsere Tagung, dass
sich das ändert.
V
Zu
meinen eigenen Versuchen.
Die
empirischen Korrelate für die
pädagogische Grundbegrifflichkeit
interessieren mich schon über
dreißig Jahre in verschiedenen
Projektzusammenhängen. Angefangen
mit der Bildungsgangsforschung zur
Kollegschule, wo wir versuchten, den
Bildungsgang, den wir für die
Schüler entworfen hatten, mit dem zu
konfrontieren, den die Schüler über
drei bis vier Jahre real gestalteten
und durchmachten: mit der
Rekonstruktion der objektiv wie
subjektiv durch die
Anforderungsstruktur gegebenen
Entwicklungsaufgaben im Verlaufe der
Bildungsgänge, mit der Frage, wie
hier das Vermittelte angeeignet, ja
zugeeignet wird, wo Krisen des
Verstehens und der Orientierung
entstehen, die dann zur Bildung von
Orientierungen führen, wie im Medium
des Berufs sich das je besondere
Ich-Welt-Verhältnis neu ausrichtet.
Mit solchen Fragen haben wir die
pädagogischen Prozesse zu
rekonstruieren versucht (Gruschka
1985, Blankertz 1986).
Danach habe ich mit einer Fülle von
Fallstudien, die sich auf ephemer
scheinende, in der Regel natürliche
Protokolle des Schulischen
(Klassenarbeiten, Arbeitsbögen,
Schulordnungen, Konferenzprotokolle
usf.) bezogen, versucht zu
verstehen, wie eine pädagogische
Normierung in Widerspruch gerät zu
den funktionalen Imperativen der
Institution. Das kann in mehr als 30
kleinen „Kältestudien“ nachgelesen
werden (Pädagogische Korrespondenz
1ff, Gruschka 1994).
Seitdem ich in Frankfurt bin,
arbeite ich an einer Theorie des
Unterrichtens und in den letzten
drei Jahren haben wir dazu an vier
hoch kontrastiven
Sekundarstufenschulen über die
Breite der Unterrichtsfächer
Unterricht ausgezeichnet und mit den
Transkripten gearbeitet (siehe
Gruschka 2005, PÄRDU:
www.//uni-frankfurt.de/fb/fb/04/forschung/emp2.html)
Ziel
ist es hier also, die konstellative
Beziehung von Erziehung, Bildung und
Didaktik als die zentralen
pädagogischen Motivierungen der Form
Unterrichten zu untersuchen.
Einige der methodischen Prinzipien,
die den gewählten empirischen Zugang
seien markiert (vgl. Gruschka 2005):
(1.)
Wir arbeiten mit den natürlichen
Protokollen des pädagogischen
Geschehens. Wir generieren keine
sekundäre Repräsentation für
Unterricht durch Test- oder
Einschätzungs-Daten.
(2.)
Dieses Geschehen tritt uns immer als
individueller Fall entgegen und wird
im Sinne strenger Kasuistik
als solcher gewürdigt, also nicht
subsumtionslogisch an und mit
bereits Bekanntem abgeglichen (wie
etwa Skalen und Ratings).
(3.)
Wir studieren die Verlaufslogik „in
situ“, d.h. an der realen, im
Protokoll abgebildeten
Entwicklung des Geschehens. Dazu
arbeiten wir mit der
Sequenzanalyse. Sie drückt
methodisch aus, was in der Realität
unausgesetzt geschieht, dass nach
dem Beginn des Unterrichts jede
Bemerkung auf eine vorhergehende
interpretierend reagiert, wie sie
zugleich unterschiedliche
Möglichkeiten von Anschlüssen
entbindet. Die jeweilige, immer
motivierte Selektion aus diesen
Möglichkeiten, das heißt das
Deutungs- und Reaktionsverhalten von
Lehrern und Schülern eröffnet den
Blick auf die subjektiven Motive wie
auch die objektiven Regeln, denen
dabei pädagogisch gefolgt wird: wie
der Lehrer lehrt und wie der Schüler
lernt und wie jeweils jeder auf
jeden und die zwischen ihnen
verhandelte Sache antwortet.
(4.)
Dabei generieren wir Lesarten
zu den unterrichtspragmatisch
möglichen, pädagogisch angemessenen
Anschlüssen, den sinnvollen
Ausdrücken, wie auf eine Bemerkung
eines Schülers reagiert werden kann,
wie ihm eine Frage zu stellen wäre
usf. Erst wenn diese Lesarten
bestimmt sind, sehen wir, was als
nächster Schritt tatsächlich
geschieht. Nicht selten stoßen wir
dabei auf misslingende
Kommunikation, die selbst aber ihren
regelhaften Hintergrund hat.
(5.)
Bei der Interpretation gehen wir
nicht, wie es Pädagogen gerne
machen, von dem wahrscheinlich oder
eigentlich Gemeinten aus, gleichsam
dem Ideal hinter dem Geschehen. Wir
postulieren stattdessen einen
objektiven Gehalt mit der Bedeutung
des Gesagten. Es gilt damit das
Prinzip der Wörtlichkeit. Der
Rede wird damit Verantwortlichkeit
und Gestaltprägnanz unterstellt,
jenseits der entsprechenden
subjektiven Präsens der
artikulierten Bedeutungen. Wir
nehmen den Text als motivierte
Ausdrucksgestalt ernst und
unterstellen damit, dass der Lehrer
meint, was er sagt. Erst wo die
Analyse das zwingend als falsch
erweist, wird die positive
Unterstellung durch die sich
durchsetzende etwa die der Ironie
ersetzt. Dann aber gilt wiederum,
dass der objektive Gehalt der
verstellten Kommunikation bestimmt
werden muss.
(6.)
Wir beschränken unsere
Aufmerksamkeit auf Unterricht als
pädagogische Kommunikation über
Erkenntnistatbestände. Damit ist
klar, dass wir den Unterricht nicht
in der umfassenden Gesamtheit seiner
Erscheinungen und Bedeutungen
erfassen. Eine entsprechende
Totalaufnahme ist angesichts der
Komplexität des Geschehens keine
reale Option. Wir können deshalb zum
Bildungsprozess der Schüler nur das
aussagen, womit er zum Gegenstand
der klassenöffentlichen
Kommunikation gemacht wurde. Wollten
wir etwa an die jeweilige
Bildungswirkung der Schüler
herankommen, müssten wir eben ein
entsprechendes Design entwickeln.
(Sofern wir auch hier an natürliche
Protokolle herankommen wollen,
müssen wir die Normalität des
Lernens hinter uns lassen und etwas
explizit machen, was nur selten
entsprechend explizit abläuft, etwa
als mitlaufender innerer Kommentar:
„lautes Denken“.)
(7.)
Wir nehmen den Unterricht als
Reflexionsanlass über die Inhalte
der Erkenntnis wahr, weil in ihm
nicht einfach gelernt und geübt
wird, sondern das Lernen und das
Üben immer auch zum Gegenstand der
Kommunikation wird. Damit wird
Unterrichten untersucht als der in
der Klassenkommunikation eröffnete
Möglichkeitshorizont des
Verstehens der Inhalte und der
Einübung in das dazu erforderliche
Verhalten.
(8.)
Am Ende einer solchen Fallstudie
formulieren wir mit der
Fallstrukturhypothese,
eine genetische Erklärung aller
Details und der Unterrichtsdynamik
aus dem übergreifenden Regelwerk des
Umgangs mit den pädagogischen
Dimensionen der Erziehung, der
Bildung und der Didaktik.
(9.)
Im anschließenden Vergleich der
Fälle kommt es zur übergreifenden
Modellbildung. Dazu haben wir
bislang lediglich erste Versuche
erarbeitet. So zur Logik schulischer
Präsentationsübungen (vgl. Gruschka
2008a), der pessimistischen
Anthropologie des Schülers, wie sie
sich in den
Unterrichtsentscheidungen ablesen
lässt (vgl. Twardella 2008) oder
der auffindbaren
Didaktisierungsstrategien (vgl.
Gruschka 2008b) In einigen Monaten
wird ein Band mit 16 Fallstudien
quer zu allen Unterrichtsfächern
vorliegen, mit denen ich nach der
Relevanz der Erkenntnistheorie und
der Wissenschaftstheorie für das
Verstehen der Inhalte der achten
Klasse frage.
VI
Ich
komme abschließend zu drei kleinen
Beispielen für diese Weise der
pädagogischen Unterrichtsforschung:
wie wir also arbeiten. Ich liefere
lieber diese, als nun abschließend
mit so etwas wie ein „best of“
unserer Ergebnisse zu bieten.
(1)
Mein erstes soll ihnen einen so
schlichten wie hoffentlich
eindringlichen Eindruck verschaffen,
wie wir fragen, wenn wir Unterricht
als pädagogische Geschehen
auffassen.
In
einem Unterrichtstranskript findet
sich zu Beginn folgende Passage:
Lw: So, o.k, dann fangen wir an. Ihr
hattet die 3 u-n-d die 5 auf. Bei
der 3, mit der hatten wir in der
Schule angefangen. Also dürfts
eigentlich gar keine größeren
Probleme geben.
Eine
Bemerkung, die wir so oder ähnlich
immer wieder zu Beginn des
Unterrichts finden. Eine Lehrerin
leitet mit ihr die Besprechung der
Hausaufgabe ein. Nach meiner
Kenntnis würde die
Lehr-Lernforschung allein den Typ
der Handlung kodieren und dabei den
Tonfall der Erinnerung, was zu tun
war. Eine Auslegung solcher Sätze
auf ihren pädagogischen Sinngehalt
ist mir noch nicht begegnet.
Wie
sähe die aus? Das „ihr hattet auf“
postuliert faktisch, dass alle
bereit und in der Lage waren, die
Hausaufgaben zu machen. Ansonsten
wäre die Hausaufgabe weder
erzieherisch gesichert, noch als
pädagogische Beschäftigung der
Schüler zu legitimieren. Doch schon
die insistierende, je nach Tonfall
bereits drohende Dehnung der
Konjunktion „u-n-d“ deutet an, dass
sie ihre Zweifel hegt. Die Aufgabe
„3“ wurde bereits in der Schule -
also mit Hilfestellung der Lehrerin
- begonnen. Doch ob deswegen auch
für „die 5“ vorliegen wird, scheint
für die Lehrerin ungewiss zu sein.
Ein Grund dafür könnte sein, dass
die SuS nicht dazu bereit waren, die
mit ihrer Rolle verbundenen
Verpflichtungen zu erfüllen. Sie
wussten, was zu tun war, sie wären
auch dazu in der Lage gewesen, die
Aufgaben zu lösen, doch wollten
sie es nicht. Dann läge ein Problem
vor, auf das die Lehrerin
erzieherisch reagieren müsste.
Es könnte aber auch sein, dass die
SuS zwar dazu bereit waren, die
Hausaufgaben zu machen - auch „die
5“ -, dass sie aber die Aufgabe
nicht lösen konnten. Dafür
kann es zwei nicht kontingente,
sondern mit der Form Unterricht
einhergehende Gründe geben: Entweder
ist der Sachverhalt, um den es geht,
von den SuS (noch) nicht
verstanden worden. Damit läge
subjektiv ein Bildungsproblem
vor. Oder aber der Lehrer hat es
nicht vermocht, die Aufgabe so
einzuführen, dass sie von allen
Schülern hätte gelöst werden können.
Das sich andeutende Problem wäre
damit eines der Vermittlung der
Sache oder der Didaktik des
Lehrers. Möglicherweise hat der
Lehrer mit seiner didaktischen
Erklärung und Hilfestellung die
Sache nicht getroffen, dann hat er
die in ihr steckende objektive
Bildungsaufgabe nicht zureichend
bearbeitet. Weder weiß der Lehrer in
diesem Augenblick, was der Fall ist,
noch kann er ausschließen, dass es
an allen drei Stellen hakt.
Wie
in dem gedehnten „u-n-d“ sind die
drei Dimensionen des Unterrichts
auch in der anschließenden
Formulierung „Also dürfts eigentlich
gar keine größeren Probleme geben“
enthalten: Die Lehrerin macht sich
Mut, indem sie die „größeren
Probleme“ ausschließt. Das
„eigentlich“ und der Konjunktiv aber
implizieren schon, dass das nicht
sicher ist. Die „größeren Probleme“
liefen auf das Nicht-Verstehen der
Aufgabe heraus, dieses selbst
darauf, dass das in ihr enthaltene
Problem nochmals behandelt werden
müsste. Eigentlich würde sie nur
kleinere Probleme gelten lassen
wollen, die etwa darin bestünden,
dass nicht alle Schüler die Aufgaben
machen wollten. Vermittelt wird wie
Unsicherheit durch die übergeordnete
pädagogische, genauer gesagt,
erzieherische Bedeutung ihrer
Äußerung: Obwohl sie weiß, dass es
Probleme bei der Besprechung der
Hausaufgaben geben wird, unterstellt
sie, dass die SuS dazu in der Lage
sein sollten, sie zu lösen:
Waren sie aufmerksam und fleißig,
gab es „gar keine“ Probleme. Treten
nun dennoch solche auf, dann wissen
sie, woran es lag. Aber diese
Auflösung der pädagogischen
Situation in Erziehung gilt nur
„eigentlich“, nicht unbedingt
empirisch.
Wir
werden mit dieser Auslegung
aufgefordert, im weiteren Transkript
die empirische Antwort auf die schon
zu Beginn aufgeworfene pädagogische
Frage zu finden. Die Antwort kann
nicht in der Beobachtung der
weiteren Kommunikation als
Kommunikation gefunden werden, der
nächste Schritt besteht in der
Analyse der Aufgabe und mit ihr in
der dreifachen Bestimmung: der der
Sache, der der Aufgabenpragmatik und
der Sache zu der sie für die Schüler
geworden ist.
(2)
Was wäre damit der Gegenstand der
folgenden Analyse? Natürlich die
Art und Weise, wie der Lehrer das
mögliche Problem bearbeitet. Aber
Sie verstehen vielleicht bereits
jetzt, also quasi intuitiv, dass man
das nur mit Aussicht auf den Erfolg
einer Erschließung unternehmen kann,
wenn man zuvor das Problem selbst
bestimmt hat.
Ich
lege Ihnen hierfür ein ganz und gar
typisches Arbeitsblatt aus dem
Unterricht in der Gesellschaftslehre
oder Geschichte vor.
Abb.
Cortés Anhang
In
einer Serie von solchen Blättern
werden die großen Entdeckungen des
15. und 16. Jahrhundert, als die
Welt für uns zum Globus wurde,
vorgestellt. Was sehen und lesen wir
wie die Schüler?
Bilder und Text. Beim Text eine
vielfache Gliederung in
Überschriften und Text: Texttypen
wie die Bestimmung von „Q1“ und
nicht Qs, sowie Aufgaben, die aus
dem Blatt ein Arbeitsblatt machen.
Ausgangspunkt ist eines der
wundersamsten Geschichtsereignisse
der frühen Neuzeit: Wie nämlich eine
Handvoll ziemlich verwegener Spanier
es schaffte, ein Imperium zu erobern
und anschließend zu vernichten: das
Reich der Azteken.
Die
Geschichte wird nicht einfach
erzählt, sondern mit dem Anspruch
dargeboten, sie zu analysieren.
Arbeiten sollen die Schüler, indem
sie die Quellen sich anschauen und
sie bewerten, um so die Frage zu
beantworten: Wie konnte es
geschehen?
Kann
man das mit einem einzigen
Arbeitsblatt leisten? Wir können
bald erkennen, dass der Didaktiker
dies nicht nur unterstellt, sondern
auch erfolgreich bewerkstelligt.
Gehen
wir hierzu, wie es auch Lehrer und
Schüler tun, auf die Aufgaben ein.
Gefragt wird mit ihnen danach, was
der Aztekenkaiser meinte als er zu
Cortés sagte „Du bist in Deiner
Stadt angekommen“ Sodann wird
gefragt, welche Ziele der Spanier
vorfolgten und wie sie sich
verhalten haben.
Der
Didaktiker sorgt dafür, dass die
erste Frage nicht falsch beantwortet
werden kann: in Deiner Stadt
macht klar: Moctezuma hat dem Cortés
die Stadt übergeben. Mit der
Überschrift „goldgierige Spanier“
wird sodann klar, was die Spanier
angetrieben hatte, eben die Gier
nach Gold. Mit der Subunterschrift
„Ankunft der Götter“ wird klar,
warum der Kaiser so töricht
gegenüber Cortes was: Sie wurden als
die Boten der Götter missverstanden,
die man in Mexiko zurück erwartete.
Wer
sich nur ein wenig für Geschichte
interessiert, der weiß mit solchen
leichten Antworten nichts
anzufangen. Er wird ihnen mit einer
Fülle von Nachfragen begegnen, die
bald die angebotene Erklärung als
unsinnig erweisen werden. Wer
genauer hinsieht, wie die Sache
repräsentiert wird, der stolpert
darüber, dass Bilder wie eine
Fotoreportage behandelt werden,
obwohl sie erst Jahrzehnte nach dem
Geschehen angefertigt wurden, dass
die Quellen nicht vollständig sind,
ja dass sie wie die Rede des Kaisers
unmöglich von diesem selbst stammen
kann.
Wie
soll man das beurteilen? Nun wohl
indem man die Darstellung der
Fachlichkeit genauer untersucht,
mithin danach fragt, was von ihr in
der Unterrichtskommunikation über
das Blatt zum Gegenstand wird, und
indem man zugleich zu erklären
versucht, was pädagogisch geschieht,
wenn zwecks Lernen der Geschichte
diese weitestgehend von ihrem
Problemgehalt und Bildungssinn
entsorgt wird und wie es die
Didaktik auch noch schafft, dass die
Schüler sich so etwas gefallen
lassen.
(3)
Haben wir noch Zeit für mein drittes
Beispiel? Es bezieht sich auf das
Unterrichtsgeschehen. Ihnen liegt
eine weitere Aufgabe, nun eine aus
dem Deutschunterricht vor.
„Aufgabe 3:
Die nebenstehenden Sätze enthalten
drei Thesen. Ordnen Sie ihnen die
zugehörigen Argumente, Belege und
Beispiele zu.
a)
Denn nur eine kleine Zahl von
Bewerbern wird zu einem
Vorstellungsgespräch eingeladen.
b)
Zu dieser Frage habe ich vor einiger
Zeit eine informative Fernsehsendung
über das Amazonasgebiet in Brasilien
gesehen.
c)
Das Abholzen der tropischen
Regenwälder muss unbedingt
eingestellt werden.
d)
Denn diese Stoffe haben, vor allem
langfristig, gefährliche
Nebenwirkungen.
e)
Das haben wir in unserer Klasse bei
Bewerbungen immer wieder
festgestellt.
f)
Weil viele Betriebe eine Vorauswahl
der Bewerber nur nach den Noten
treffen.
g)
Denn die riesigen Waldflächen
produzieren den lebensnotwendigen
Sauerstoff.
h)
Weil diese Mittel die Gesundheit der
Athleten schädigen.
i)
Gute Noten im Schulzeugnis sind bei
einer Bewerbung entscheidend.
j)
Die Einnahme von leistungsfördernden
Dopingmitteln im Sport muss verboten
werden.
k)
Weil diese Wälder für das
Weiterbestehen der Menschheit
unbedingt erforderlich sind.
l)
Die Bilder von männlich wirkenden
Leichtathletinnen zeigen doch
auffällig, wie gesundheitsschädigend
diese Mittel sind.“
Unschwer zu erkennen ist, dass hier
ein Zusammenhang von vier Satztypen
zu einem Thema künstlich
auseinandergerissen und
durchgemischt wurde. Die Aufgabe
lautet, die Sätze wieder in die
ursprüngliche Ordnung zu bringen.
Damit bereits ist der Tatbestand
einer Rätselaufgabe gegeben. Es geht
nicht darum zu prüfen und zu
belegen, warum drei der 12 Sätze
Thesen sind, drei andere Argumente
repräsentieren usf. Auch liegt hier
nicht die Absicht vor, die
Zuordnung als eine problematische
bzw. anders zu begründende zu
erfahren. Die Schüler sollen
vielmehr die Sätze als gültige
Repräsentanten ihrer Form finden.
Wie macht man das, wenn man nicht
genau weiß, was eine These, was ein
Argument, was ein Beleg und was ein
Beispiel ist? Soll man es etwa durch
die Zuordnungsübung erst lernen?
Wenn
man es nicht weiß, eröffnet sich
eine alternative Lösungsstrategie.
Wir kennen sie von ähnlichen
Aufgaben in einem Intelligenztest.
Danach muss man erkennen, wie die
Kombination zustande gekommen ist,
was sich wohl der Autor gedacht hat
und welche Hinweise sich für seine
Ordnungsvorstellung in den Sätzen
entdecken lassen. So eingestimmt
findet man drei Sätze mit dem
Anfangswort: „Weil“ und drei mit
dem Anfangswort „Denn“. Argumente
dürften wohl anfangen mit einem
begründenden „Denn“, Belege mit
einem „Weil“. Vielleicht ist es auch
umgekehrt. So sind bereits sechs
Sätze zugeordnet. Beispiele sind
sicher konkreter als Thesen, also
weiß man mit den anderen sechs
Sätzen, wie sie zuzuordnen sind.
Über das Argument und den Beleg
entscheiden wir am besten ähnlich:
Belege sind sie konkreteren Sätze,
Argumente die allgemeineren;
hoffentlich passt das zu „denn und
weil“.
Man
kann das experimentell durchspielen
und wird in kürzester Zeit eine
Lösung präsentiert bekommen.
Der
Lehrer geht so aber nicht vor,
sondern behandelt statt der
Kombination der Satztypen einen von
ihnen: die These. Damit fangen die
Probleme an:
.Aus
dem Unterrichtstranskript
L.:
Wir beginnen mit der ersten Aufgabe.
Und zwar als Beispiel ist hier oben
angeführt, Arbeitsblatt 3 These 1:
dazugehöriges Argument, Beleg und
Beispiel. Die nebenstehenden Sätze
enthalten drei Thesen, die sollt ihr
finden. Vielleicht machen wir das
erst mal in Schritten ... Bitte?
Sm?: Können Sie kurz sagen, was noch
mal eine These ist?
L.: Was ist eine These? .... Was ist
eine These?
Sm10.: Das ist eine Aussage, ....
die noch nicht begründet wurde. Kann
man sagen, vielleicht ein Beweis, der noch nicht begründet wurde. Ich
meine Beweis ist ja begründet, aber
...
L.:... die Aussage wäre besser.
Sm10: . Ja, OK
L.: Also eine Aussage, die noch
nicht begründet oder ausgeführt
worden ist. So dann machen wir das
erst einmal und ihr guckt jeder ...
Wir haben auch noch ein bisschen
Zeit, für a) und 1. Wo findet ihr
dann Aussagen, Thesen Es müssen drei
versteckt sein. Und die nummeriert
ihr dann euch mal durch: 1.2.3.
Sw10: Ich verstehe das noch nicht!
L.: Verstehst Du?
Sw?: Wir sollen jetzt also von
diesen drei Hypothesen, die darin
enthalten sind oder was? ... Ich
brauchte jetzt von diesen Sätzen ein
Beispiel, was eine These ist zum
Beispiel.
L:
... eine einfache Aussage. Äh was
können wir ...
Sm9: Die Welt geht in zwei Jahren
unter!
L.: Weißt Du es jetzt?
Sw10 : Ja
...
L.: „... also der versucht dir
etwas zu erklären, was zu begründen,
zu belegen, ja? OK Also das (gemeint
ist seine eigene Liste A.G.) sind
die drei Thesen. Was ist? Noch ne
Frage?
Sm9: Ich hab was auszusetzen, dass
c eine These ist, denn da ist
überhaupt keine Aussage drin, Doch,
ist schon eine drin, aber äh..
L.: Das Abholzen der tropischen
Regenwälder muss unbedingt
eingestellt werden.
Sm9: Ich meine, da kann man ... Da
gibt es nichts zu beweisen, ganz
einfach.
L:
Warum?
Sm9: Ja was soll es denn da für
einen Beweis geben? Bewiesen ist,
dass es eingestellt werden muss?
Ich meine, das kann ja jeder anders
sehen, oder?
L.: Ja, das sollst du ja gerade ...
Sm9: Das ist eher ne Meinung und
keine These , ... finde ich
L.: Das ist ne Aussage, Das ist
sogar ne Forderung, also noch mehr
als nur ne Aussage, Und die muss
erst mal begründet werden.
....
Sm9: „Na gut!“
L:
„ ... du
wirst das noch schon einsehen“.
....
Sw7:
„Ich hab noch mal nachgedacht, das
irgendwie zu verstehen, aber ich
konnte ... mir das nicht vorstellen,
das als These zu sehen. Aber ich
glaube einfach, ich weiß nicht, was
These ist. Ich hab’s nicht
verstanden ... Wenn hier alle sagen,
dass wir keine These haben ...“.
Man
kann die aufbrechende und nicht
abebbende Diskussion als die List
der Vernunft verstehen, die durch
die Unvernunft des didaktischen
Materials entbunden wurde. Die
Schüler werden nicht auf das Rätsel
angesetzt, sondern auf die
Identifikation des Satztyps „These“
hin erzogen. Da sie nicht wissen,
was eine solche These ist, suchen
sie unter allen Sätzen mögliche
Kandidaten. Dass ein Satz mit „Denn“
beginnt, disqualifiziert ihn nicht
schon inhaltlich als These. Danach
gibt es deutlich mehr als drei
Sätze, die man so bestimmen könnte.
Es dürfen aber nach der Rätsellogik
nur drei sein („versteckt“ wie der
Lehrer selbst betont). So muss man
sich entscheiden, will man klären,
was eine These ist, egal wie viele
in den Beispielsätzen stecken oder
will man die drei finden, die der
Didaktiker als solche betrachtet und
in die Sammlung eingefügt hat?
Der
Lehrer kann sich nicht so recht
entscheiden, welchen Weg er gehen
will. Er akzeptiert den
Klärungsbedarf, aber er will
zugleich die Lösung der Aufgabe
abrufen und sie für alle
sanktionieren. Da aber die Aufgage
sinnwidrig aufgebaut ist, lässt sich
beides nicht zugleich erreichen. So
kommt es am Ende zu einer
Musterlösung, die niemanden in der
Klasse sachlich überzeugt.
VII
Können wir zu einem Geschehen wie
dem Geschilderten als Forscher
Stellung beziehen, indem wir es mit
allgemeinen Unterrichtskriterien
vergleichend messend beurteilen? Wir
haben das getan. Dann kommen beide
Stunden gar nicht so schlecht weg:
Die Schüler arbeiten mit, der Lehrer
aktiviert und ist den Schüler
zugewandt. Er zeigt
Methodenvielfalt, stellt eine klare
Aufgabe usf.
Würde
man die Leistungen der Schüler
testen, sie wären mehrheitlich in
der Lage, die Fragen zum Text zu
beantworten, die Sätze richtig zu
sortieren. Sie zeigten also
Textkompetenz.
Sobald wir aber nach dem
pädagogischen Sinn des Geschehens
fragen, müssen wir ungleich ernster
nehmen, was sich im Unterricht
vollzieht. Zu was werden die
Schülerinnen und Schüler mit ihm
erzogen, was wird hier wie
vermittelt, und was hat das mit der
Sache zu tun, die der Unterricht
thematisiert. Gefordert ist mithin
eine pädagogische
Unterrichtsforschung. Sollte sie
nicht unsere Aufgabe sein?
Anhang/Appendix:
[1]
Vortrag, gehalten am 21.11.2008
auf dem internationalen
Symposion des Forschungs- und
Studienzentrums Pädagogik des
Universiät Basel „Jenseits von
Bildungsstandards und
Kompetenzdiskurs?
Standortbestimmungen zur Theorie
und Empirie des schulischen
Unterrichts“
[2]
Man kann sich wie
Oswald/Krappmann es in der
Forschung versuchten 1995, noch
sehr um genaue
Erinnerungsprotokolle bemühen,
sie stellen Protokolle der
Erinnerung dar, nicht aber
natürliche Protokolle der
Praxis, über die wir heute mit
den maschinengestützten
Aufnahmegeräten relativ leicht
verfügen können.
Literatur:
Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike:
Stichwort: Professionelle Kompetenz
von Lehrern; in: Zeitschrift für
Erziehungswissenschaft 2006/4, S.
469-520
Benner, Dietrich: Allgemeine
Pädagogik, München 1988
Blankertz, Herwig: Theorien und
Modelle der Didaktik, München
1969/75
Ders.: Geschichte der Pädagogik –
von der Aufklärung bis zur
Gegenwart, Wetzlar 1982
Ders.
(Hrsg.): Lernen und
Kompetenzentwicklung in der
Sekundarstufe (zwei Bände), Soest
1986
Gruschka, Andreas: Wie Schüler
Erzieher werden (zwei Bände),
Wetzlar 1985
Ders.: Bürgerliche Kälte und
Pädagogik, Wetzlar 1994
Ders.: Auf dem Weg zu einer Theorie
des Unterrichtens, Frankfurt
2005/2006
Ders.: „Was ist guter Unterricht?“
–Über neue Allgemein-Modellierungen
aus dem Geist der empirischen
Bildungsforschung; in: Pädagogische
Korrespondenz 36/2007, S.10-43
Ders.: Die Bedeutung der fachlichen
Kompetenz für den Unterrichtsprozess
– Ergänzende Hinweise aus der
rekonstruktionslogischen Forschung;
in Pädagogische Korrespondenz
38/2008b, S. 44-75
Ders.: Präsentieren als neue
Unterrichtsform, Opladen 2008a
Ders.: Erkenntnis in und durch
Unterricht – Über den Zusammenhang
von Didaktik, Wissenschaftstheorie
und Erkenntnistheorie, Opladen 2009
(in Vorbereitung)
Meyer, Hilbert: Was ist guter
Unterricht? Berlin 2004
Osswald, Hans /Krappmann, Lothar:
Alltag der Schulkinder, München
1995
Tenorth, Heinz-Elmar:
Professionalität im Lehrberuf.
Ratlosigkeit der Theorie.,
gelingende Praxis; in. Zeitschrift
für Erziehungswissenschaft 2006/4,
S. 580-598