TOPOLOGIK.net   ISSN 1828-5929      Numero 4/2008


 

Dietrich Benner

 

In welche Zukunft schaut die Pädagogik?

Oder: Erlaubte und unerlaubte Mutmaßungen über

die Zukunft einer Praxis und Disziplin 1

 

 

Für Mutmaßungen über die Pädagogik gilt, was für Mutmaßungen anderer Art auch in Rechnung zu stellen ist, dass sie nämlich im Medium der Wissenschaften nur erlaubt sind, wenn sie sich auf quasi vorgeschichtliche Anfänge oder außergeschichtliche Sachverhalte beziehen, nicht aber, wenn sie historische Prozesse zum Gegenstand haben. Diese betreffen vergangene, gegenwärtige oder künftige Entwicklungen, deren Verlauf nicht im Vorhinein feststeht, sondern über menschliches Denken und Handeln vermittelt und für neue Erfahrungen offen ist. Ganz in diesem Sinne hat Kant Mutmaßungen über den Anfang, besser über den Eintritt des Menschen in die Geschichte, nicht aber solche über den Verlauf der Geschichte für erlaubt gehalten und die Legitimität ersterer – wie schon Rousseau – daran zurückgebunden, dass in ihnen nicht über Tatbestände und Sachverhalte gemutgemaßt wird, die wir (nur) aus der Geschichte kennen und durch unsere pragmatischen Überlegungen und Versuche mit hervorgebracht haben (vgl. Kant 1786, 1964, A 3f., A 14f.).

Zu den erlaubten Mutmaßungen gehört, dass Menschen seit ihrem Eintritt in die Geschichte bildsame oder lernfähige Wesen sind und stets von neuem als solche geboren werden. Dem zuletzt genannten Faktum zufolge ist alles mensch­liche Denken und Tun auf eine durch die Evolution vererbbar gewordene unbestimmte und offene Bildsamkeit bezogen. Ihr Begriff gehört zu den Grundbegriffen der Pädagogik und weist die mensch­liche Lernfähigkeit als einen Tatbestand aus, dem eine interaktive Bedeutung für alles Lernen, Lehren und Erziehen zukommt. Seine selbst- und weltbildenden Aspekte gilt es mit Blick auf gesellschaftlichen Wandel und historische Umbrüche stets von neuem systematisch zu klären sowie historisch und empirisch zu erforschen (vgl. Benner 52005, S. 71-92; Benner/Brüggen 2004a).

Weitere Mutmaßungen über Anfang, Verlauf und Zukunft der Pädagogik scheinen mir weder erlaubt, noch möglich oder sinnvoll zu sein. Die von Rousseau auf einen ambivalenten und von Herbart auf einen prinzipiellen Begriff gebrachte Bildsamkeit besagt, dass wir nicht wissen, „was uns unsere Natur zu sein erlaubt“ (Rousseau 1762/1979, S. 46). Die menschliche Perfektibilität, von der Rousseau und Kant einmütig sprechen, ist und bleibt ambivalent und bezieht sich sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Gattung (vgl. Rousseau 1755/1984, S. 102f.). Sie ermöglicht es dem einzelnen Menschen und der Mensch­heit, aus eigenen und fremden Erfahrungen zu lernen und geschichtlich Hervorgebrachtes zu verändern und zu tradieren.

Die auf das Individuum und die Gattung auslegbare Bildsamkeit wird verfehlt, wenn Geschichte a priori oder a posteriori als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte oder als beides zugleich gedacht und gedeutet wird. Die Frage, in welche Zukunft die Pädagogik schaut, kann darum sinnvoller Weise weder prophetisch noch szientifisch beantwortet werden. Sie gehört, wie Schleiermacher in seinen Vorlesungen des Jahres 1826 ausgeführt hat, zu jenen Fragen, die nicht stellvertretend von einer älteren für eine nachwachsende Generation zu beantworten sind und die es daher als Fragen zu tradieren und intergenerationell zu erörtern gilt (vgl. Schleiermacher 1826/ 1957/1983, S. 9). Auf sie werden im Folgenden drei Antworten geben, die der Tradierung dieser Frage, nicht aber der Befreiung von ihr dienen wollen. Die erste bezieht sich auf die Zukunft der Pädagogik in der Gestalt der Erziehung, die zweite auf die Zukunft schulisch vermittelter Bildung und ihrer Theorien, die dritte auf die Zukunft von Allgemeiner Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Mit dieser dreifachen Akzentuierung greife ich Themen auf, die Klaus Prange bereits in seinem Eröffnungsvortrag (siehe Prange 2007) angesprochen hat, ohne diesen direkt zu kommentieren. Das scheint mir insofern legitim zu sein, als ja auch Prange in seinem Vortrag meinen erst später ausformulierten Text nicht kommentieren konnte und das Kommentieren, Ergänzen, Kritisieren, Erweitern und Engführen beider Texte ein Gegenstand der Diskussion und der anderen Vorträge dieser Veranstaltung sein sollte.

 

1. Die Zukunft der Erziehung

Das über die Zukunft der Erziehung zu Sagende hat John Dewey in einem Satz auf einen vorläufigen Begriff gebracht, der sich im 3. Absatz des 4. Kapitels von „Demokratie und Erziehung“ findet. Er lautet: „der Vorgang der Erziehung [hat] kein Ziel außerhalb seiner selbst; er ist sein eigenes Ziel“ (Dewey 1916/1964, S. 75). Im Englischen steht für Ziel „end“ (Dewey 1916/1985, S. 54), so dass davon ausgegangen werden kann, dass Dewey hier nicht von beliebigen Zielen der Erziehung, sondern vom Endziel oder Zweck der Erziehung spricht. Die Erziehung, so will er sagen, hat alle möglichen Ziele, aber sie hat kein Endziel oder Telos, das außerhalb ihres eigenen Prozesses zu verorten wäre.

Die Bedeutung, die Dewey dieser in vielen seiner Schriften wiederkehrenden Aussage zusprach, ist mehrdeutig und ambivalent. Da er unter Bildsamkeit – jedenfalls in der frühen und mittleren Zeit seines Schreibens und Forschens – nicht die unbestimmte perfectibilité Rousseaus, sondern – in der Nachfolge Platons – eine gewisse Plastizität der Anlagen (vgl. Dewey 1916/1985, S. 49) verstand, meint die zitierte Aussage zunächst einmal, dass Erziehung evolutiv als ein Prozess ohne äußeres Telos zu verstehen ist (vgl. Bellmann 2007).2 Ihr Telos ist gleichsam in ihrem eigenen Prozess präsent, ohne dass es einer gesonderten Teleologisierung oder Finalisierung bedürfte. Erziehung ist dann vernünftig, wenn sie den Einzelnen zu dem befähigt, was diesem seine Anlagen zu werden erlauben, und sie kann in diesem Sinne vernünftig nur im Kontext demokratischer Lebensformen eingerichtet werden. Diese erlauben Bildungsprozesse, in denen die sich Bildenden wechselseitig auf ihre Lernprozesse einwirken, und eröffnen damit jedem Mitglied der Gesellschaft die Möglichkeit, unter Bezugnahme auf eigene und fremde Erfahrungen weiter- und unter gewissen Umständen auch umzulernen.3

Die angedeutete Mehrdeutigkeit in Dewey Satz wird sichtbar, wenn man den heimlichen, gelegentlich auch offen ausgesprochenen Anlagennativismus Deweys verlässt und die zitierte These so interpretiert, dass die Erziehung deshalb kein Endziel außerhalb ihrer selbst hat und haben kann, weil alle Ziele, die Einzelne oder ganze Gesellschaften an die Erziehung herantragen mögen, erst dadurch zu Zielen der Erziehung werden, dass sie Lehr-Lern-Ziele und d.h. immanente Ziele des Lernens und Lehrens selbst werden. Ziele erfahren in pädagogischen Prozessen unweigerlich eine Transformation. Diese macht aus dem, was gelernt und später gekonnt sein soll, etwas, das lernend angeeignet und hervorgebracht werden kann. Gelingt eine solche Transformation nicht, so können wie auch immer und von wem auch immer gesetzte oder formulierte Ziele nicht zum Ziel der Erziehung werden. Oder anders formuliert: Externe Ziele der Erziehung müssen in interne Ziele von Lehr-Lern-Prozessen transformiert werden, wenn sie irgendeinen pädagogischen Sinn haben sollen. Nicht das heimliche oder auch offen ausgesprochene vermeintliche Ziel, bessere von schlech­teren Schülern zu unterscheiden, ist ein legitimes Ziel der Erziehung, wie manche Erziehungswissenschaftler von Luhmann gelernt zu haben meinen, sondern Sachen und Verhaltensweisen „vermittelbar“ zu machen, wie der späte Luhmann, einer Anregung von Jochen Kade folgend, sich und seine Nachahmer eines Besseren belehrt hat (vgl. Luhmann 1986; 2002, S. 42, S. 59ff. und S. 74).

Für diesen Sachverhalt wählte Herbart die schon von Klaus Prange (2007) angesprochene Formel, eine aus ihrem eigenen Zweck abgeleitete Pädagogik werde Erziehung dreifach konzipieren: Erstens als eine „Kinderregierung“, die Macht über Kinder so ausübt, dass dabei keine positiven Ziele „im Gemüt“ der Lernenden verfolgt werden, zweitens als eine „Erziehung durch Unterricht“, die Erfahrung und Umgang der Heranwachsenden so erweitert, dass sich in diesen ein vielseitiges Interesse an Empirie, Spekulation und Geschmack sowie an zwischenmenschlichem Umgang, Politik und Religion entwickelt, und drittens als eine Erziehung, welche die Heranwachsenden in die ausdifferenzierten Formen gesellschaftlichen Handelns einführt und zur Partizipation an den gesellschaftlichen Teilsystemen befähigt.4 Die zuerst genannte Form der Erziehung konzipierte Herbart so, dass positive Ziele in negative Ziele transformiert und regierende Maßnahmen daran ausgerichtet werden, Heranwachsende an uneinsichtigem Handeln zu hindern, um Schaden von ihnen oder der Gesellschaft abzuhalten (vgl. Herbart 1806/1965, S. 30ff.). Die dritte umschrieb er mit dem Begriff einer „Zucht“, den er nicht von „Züch­tigen“ und auch nicht von „Züchten“, sondern von „Ziehen“ („Erziehen“) herleitete (ebd., S. 124). Hierunter verstand er pädagogische Maßnahmen, die die Charakterentwicklung von Heranwachsenden dadurch beeinflussen, dass sie diese zur Prüfung ihrer Handlungsmotive und zur Beurteilung der Handlungskontexte anhalten und vermittelt hierüber zu einem Handeln gemäß eigener Einsicht auffordern.

Alles, was Menschen lernen, kann durch diese drei Formen pädagogischen Handelns unterstützend oder auch gegenwirkend beeinflusst werden. Für unterstützende wie für gegenwirkende Maßnahmen der Erziehung gilt, dass sie kein Endziel außerhalb des Prozesses der Erziehung haben. Die Transformationen, denen Weltinhalte und Verhaltensweisen aller Art unterzogen werden, sind im Falle des erziehenden Unterrichts didaktische Transformationen; sie vollziehen sich, wie Klaus Prange wieder in Erinnerung gebracht hat, durch besondere Formen des Zeigens (siehe Prange 2005), und ich ergänze, durch spezifische Formen eines Fragens. Dieses kann zusammen mit dem Zeigen erfahrungs- und umgangserweiternde Lehr-Lern-Prozesse in Gang setzen, die ihr Ziel nicht außerhalb des Lernens und Lehrens, sondern in den durch sie möglich werdenden Lernprozessen haben. Im Falle der „Zucht“ als der auf partizipatorische Handlungen ausgerichteten Erziehung nimmt die Transformation die Gestalt einer gesellschaftspädagogischen Transformation an.5 Auch in ihr gibt es Formen und Techniken des Zeigens und Fragens, nur dass nicht nach etwas gefragt und auf etwas gezeigt wird, sondern der Zögling selbst sich zeigen soll als jemand, der an gesellschaftlichen Handlungen zu partizipieren und aus eigener Einsicht zu interagieren versteht. Transformiert werden hier gesellschaftliche Erwartungen und Üblichkeiten. Ihre Transformation ist nicht so zu verstehen, als versuchten durch sie Pädagogen die Gesellschaft zu erziehen (vgl. Herbart 1808/1997, S. 183), sondern so, dass gesellschaftliche Regeln, Rituale und Praktiken in solche überführt werden, an deren Einübung, Auslegung und Modifikation auch Kinder und Jugendliche mitwirken.

Für die Zukunft der Erziehung ist von großer Bedeutung, ob es gelingt, die drei genannten Formen der Vermittlung so weiterzuentwickeln, zu kultivieren und auch institutionell abzusichern, dass geeignete Technologien des Einwirkens auf Lehr-Lern-Prozesse Heranwachsender bereit stehen. Ohne die von Herbart systematisch ausgewiesenen drei Formen der Vermittlung hätte Erziehung keine Zukunft. Dies festzustellen und die Erziehung keinem Beobachterstandpunkt auszuliefern, der kategorial unausgewiesen ist und seine Konstrukte aus externen Logiken gewinnt, ist keine Mutmaßung, sondern eine pädagogische Einsicht, die es der praktischen Pädagogik auferlegt, an der Zukunft regierender Gewaltausübung über Heranwachsende, eines Unterrichts, der erzieht, sowie einer Erziehung, die Heranwachsende in selbst- und mit verantwortetes Denken und Handeln überleitet, zu arbeiten.

 

2. Über die Zukunft der Bildungstheorien

Dass der Prozess der Erziehung kein Ziel außerhalb seiner selbst hat, weist Erziehung als eine auf Bildungsprozesse ausgerichtete Praxis aus. Bildung kann heute noch weniger als in früheren Zeiten aus übergeordneten Zwecken normiert werden, sondern ist, wie Wilhelm von Humboldt (1792/1903) in seinen Studien zu den Grenzen der Wirksamkeit des Staates gezeigt hat, auf mannigfaltige, freie und rege Wechselwirkungen zwischen selbst- und weltbildenden Tätigkeiten angewiesen. Wechselwirkungen dieser Art sind nicht solche eines autopoietischen Gehirns mit sich selbst, sondern Wechselwirkungen zwischen spontanen und rezeptiven Tätigkeiten in Auseinandersetzung mit einer widerständigen Welt (vgl. Meyer-Drawe 1999a). Sie sind über negative Erfahrungen vermittelt, in denen an Bekanntem Neues entdeckt und Fremdes an Eigenes assimiliert wird. Erfahrungen dieser Art sind über Irritationen vermittelt, die im Lernprozess bearbeitet und danach vergessen werden, im Rückblick auf Gelerntes aber wiedererinnert werden können.6

Das Zeigen und das Fragen kommen in pädagogischen Situationen dadurch zusammen, dass pädagogische Akteure auf etwas zeigen, das Lernende bereits ansatzweise suchen, aber noch nicht sehen und erkannt haben. Zu diesem Zweck muss auf etwas gezeigt werden, was der Lernende (noch) nicht sieht, auf die Diagonale im vierfüßigen Quadrat in Platons Dialog Menon, auf einen Fehler bei der Lösung einer Aufgabe, auf eine vergessene oder nicht ausgeführte Überleitung bei der Explikation eines Gedankens, auf eine irrige Voraussetzung, die bei der pragmatischen Lösung einer projektierten Aufgabe als gegeben unterstellt wird, u. a. m. Gezeigt werden muss so, dass sich die Fragestruktur des Lernenden verändern kann. Pädagogisch zu fragen heißt in diesem Zusammenhang nicht, durch die Frage die Antwort vorweg zu nehmen, sondern einen Hinweis zu geben, wie die Antwort als noch nicht gefunden erkannt und durch neuerliche Anstrengungen gesucht werden kann. Dabei ist in vielen Fällen die Antwort wieder eine Frage. Pädagogische Zeige- und Fragetechnologien führen zu Antworten, die wieder zu Fragen werden können. In dieser Hinsicht weisen sie Affinitäten zu wissenschaftlichen Suchbewegungen und Erkenntnisprozessen auf, die aber nicht übergeneralisiert werden dürfen.

Übergeneralisierungen, wie sie sich in Herbarts Unterrichtslehre, die weitgehend ohne eine Berücksichtigung negativer Erfahrungen auskommt (vgl. English 2005a), und in Deweys Instrumentalismus zeigen, können vermieden werden, wenn Fragen, Zeigen und Antworten auf verschiedene Wissensformen ausgelegt und die Beziehungen zwischen diesen ausgerichtet werden. Um bildungstheoretisch ausgewiesen zu sein und bildend wirken zu können, muss das Fragen, Zeigen und Antworten bildende Wechselwirkungen zwischen dem Lernenden und der Welt in den Blick nehmen und im Blick haben. Herbart suchte eine solche Ausrichtung durch das Spiel zwischen Vertiefung und Besinnung in den Reihen der Erkenntnis und der Teilnahme abzusichern. Die von ihm unterschiedenen Wissensformen sind weiterhin bedeutsam, reichen jedoch für sich genommen heute nicht mehr aus, um ein anspruchsvolles Unterrichten anzuleiten.

In erkenntnistheoretischer, wissenschaftstheoretischer und didaktischer Hinsicht lassen sich mindestens sechs verschiedene Formen der Erfahrung und des Wissens unterscheiden: lebensweltliche, szientifische, historisch-herme-neutische, ideologiekritische, voraussetzungskritische sowie praxis- und anwendungsbezogene. An einem Beispiel illustriert, kann dies besagen:

Lebensweltlich kommt für einen Fünfjährigen das Geld aus dem Bankautomaten, mit dem seine Eltern unter Verwendung einer Karte ihr Konto erleichtern,

szientifisch können hier bei Unter- und Überdeckungen Zinsen anfallen,

hermeneutisch bearbeitbare Abstimmungsprobleme zwischen beiden Wissensformen fallen an, seit Heranwachsende in den Familien kaum noch die Erfahrung von Lohnarbeit machen und seit Automaten suggerieren, dass Geld ohne Arbeit zu haben sei,

ideologiekritische Wissensformen kommen ins Spiel, wenn gefragt wird, ob das Geld auf der Bank wächst oder abnimmt,

voraussetzungskritisches Zeigen setzt dort an, wo auf Aspekte eines Nicht-Wissens hingewiesen wird, das blinde Flecken einzelner Wissensformen betrifft,

und anwendungsbezogene sowie praktische Fragen fallen an, wenn überlegt wird, wie mit dem Taschengeld umgegangen werden kann, wie hoch es zu bemessen ist, wo man es in bestimmten Situationen aufbewahrt und welchen Üblichkeiten seine Aushändigung folgen sollte.

Für jeden dieser Erfahrungsbereiche und die in ihm zum Zuge kommende Wissensform ist zu klären, was jeweils das zu Erfragende, zu Zeigende und zu Beantwortende ist. Dies aber und die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Formen des Wissens sind in der allgemein-pädagogischen, allgemein-didaktischen und fachdidaktischen Literatur ebenso wie in der Praxis und nicht zuletzt in der Bildungsforschung weitgehend ungeklärt. Viele in den PISA-Projekten entwickelten Anwendungsaufgaben oder diesen nachgeahmte Beispiele halten einer lebensweltlichen, hermeneutischen, ideologiekritischen, voraussetzungskritischen sowie unterschiedliche Anwendungsfelder und Praxisbereich einbeziehenden Prüfung nicht stand und sind dann auch in szientifischer Hinsicht nicht zufriedenstellend.7 Entsprechende Aufgaben lassen sich jedoch mit den in TIMMS, LAU und PISA entwickelten Verfahren optimieren und können dann dazu beitragen, die Zeige-, Frage- und Aufgabenkultur von schulischem Unterricht zu verbessern (vgl. Rumpf 2006).

Hier tut sich ein Forschungsfeld auf, das die Allgemeine Pädagogik zusammen mit der Erkenntnistheorie, der Wissenschaftsforschung, der Gesellschaftstheorie und der Praktischen Philosophie sowie in enger Kooperation mit Allgemeiner Didaktik, Fachdidaktiken und empirischer Bildungsforschung bearbeiten kann. Von Klaus Prange weiß ich, dass er über Zusammenhänge zwischen Lehr-Lerntheorien und Erfahrungs- sowie Gesellschaftsbegriffen gerade Vorlesungen in Oldenburg hält, von mir kann ich sagen, dass ich seit Jahren an einem Manuskript arbeite, in dem die genannten sechs Wissensformen mit Blick auf Zusammenhänge zwischen Begriffen der Erfahrung und des Wissens, des Lehrens und Lernens, der Wissen­schaft, der Gesellschaft und des Utopischen diskutiert und teleologische Wissensformen an Platon und Aristoteles, lebensweltliche an Husserl und Meyer-Drawe, szientifische an Bacon und Popper, ideologiekritische an Marx und Vertretern der Frankfurter Schule, transzendental-kritische an Kant, Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff sowie praxistheoretische an Traditionen der Praktischen Philosophie erörtert und nach verschiedenen Formen von Kritik geordnet werden. Sollten solche und weitere Arbeiten an Bedeutung gewinnen, hätten auf Lehr-Lern-Prozesse bezogene Bildungstheorien durchaus eine Zukunft.

 

3. Über die Zukunft der Allgemeinen Pädagogik und der Erziehungswissenschaft insgesamt

So umstritten Allgemeine Pädagogik heute und künftig sein mag, als Disziplin für reflexive Einführungen ist sie weithin unbestritten. Das bescheidene Ansehen, dass sie hier genießt, ist nicht nur selbsterarbeitet, sondern auch fremdverschuldet. Es hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Einführungen in viele Subdisziplinen der ausdifferenzierten Erziehungswissenschaft entweder nicht vorliegen oder nur zu Forschungszwecken, nicht aber zum Zwecke der Ausbildung für pädagogische Berufe verfasst werden. In gewissem Sinne kann man sagen, dass alle Themen und Theorien, in die theorie- und handlungsbezogen eingeführt werden kann, zur Allgemeinen Pädagogik gehören und dass etwas, um Gegenstand solcher Einführungen werden zu können, sich allgemein als zur theoretischen und pragmatischen Erörterung von Erziehung- und Bildungsfragen zugehörig ausweisen muss.

Die Zukunft der Allgemeinen Pädagogik könnte von hierher auch darin liegen, in vieles, was heute nicht Gegenstand von Einführungen ist, so einzuführen, dass die Mitteil- und Vermittelbarkeit der Erziehungswissenschaft als Disziplin dadurch gestärkt wird. In etwas einführen aber heißt, etwas lehrbar machen. Soll es sich bei dem Etwas um wissenschaftliche Sachverhalte handeln, muss das einführende Lehren über Forschung vermittelt sein. Die Zukunft der Allgemeinen Pädagogik könnte in diesem Zusammenhang darin liegen, dass sie durch ihre Mitwirkung an erziehungswissenschaftlichen For­schungsprozessen deren theoretischen Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse lehrbar öffentlich diskutabel macht. Zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses aber werden Ergebnisse der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung und Forschung erst, wenn man sie auf Erziehungs- und Bildungsfragen sowie Aufgaben einer angemessenen Institutionalisierung von Erziehungs- und Bildungsprozessen zurückbezieht.

An einigen Beispielen sei dies abschließend erläutert. Ich gewinne diese Beispiele dadurch, dass ich eine Defizitanalyse von Jürgen Oelkers über „Allgemeine Pädagogik und Erziehung“ heranziehe, die dieser in einer von Roland Reichenbach an der Universität Münster konzipierten Ringvorlesung vorgetragen hat, und die von Oelkers angesprochenen Befunde dann mit Blick auf die von mir verfolgten Fragestellungen reformuliere. Dabei soll sichtbar werden, wie die von Oelkers beobachteten Defizite wissenschaftlich so bearbeitet werden können, dass Allgemeine Pädagogik sich als eine theoretisch argumentierende, erziehungswissenschaftlich forschende und mit anderen Subdisziplinen kooperierende Disziplin ausweist.

In dem genannten Beitrag hat Oelkers die These aufgestellt, Aufgabe Allgemeiner Pädagogik sei es, „allgemeine Fragestellungen der Erziehung und Bildung zu bewahren“. Es gebe „in diesem Sinne eine Zukunft der allgemeinen Theorie, die aber Bedingungen“ habe, darunter diejenige, dass es ihr gelinge, die pädagogischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die sie reflektiere, in das Bewusstsein „einer demokratischen Öffentlichkeit [zu] vermitteln“ (Oelkers 2006, S. 193f.). Als Beispiele, an denen sich ein allgemeiner Reflexions- und Aufklärungs- und Innovationsbedarf zeigt, werden genannt:

(1) „das Aufwachsen von Kindern unter den Bedingungen einer kaum noch begrenzten Konsumkultur“,

(2) „die Rechtfertigung öffentlicher Bildung angesichts privater und marktwirtschaftlicher Alternativen“,

(3) die Arbeit an „Antworten auf den sich unter der Hand entwickelnden neuen Kulturkampf im Bereich Erziehung und Religion“.

Erweitert man das erste Thema um Aspekte der in der Sozialpädagogik diskutierten Bewältigung veränderter Lebenssituationen, so geht es in ihm nicht zuletzt um die Sicherung lebensweltlicher Qualitäten und Bedingungen für ein reflexives und partizipatorisches Aufwachsen in familiären und außerfamiliären Bereichen. Hierzu gehört auch die Sorge, dass pädagogische Gewalt sich auf die legitimen Zwecke des Behütens und Gegenwirkens begrenzt, dass erziehender Unterricht die außerpädagogischen Anforderungen an die Erziehung angemessen didaktisch transformiert und dass gesellschaftspädagogische Transformationen erfolgreiche Übergänge aus Erziehungssituationen in die ausdifferenzierten Handlungsfelder sichern (vgl. Hamburger 2006).

Bezieht man das zweite Thema auf die gegenwärtige Diskussion über die im Anschluss an TIMMS, LAU und PISA konstatierte Bildungskatastrophe, so wird man eine noch größere Katastrophe nur verhindern können, wenn

(1.) die Kriterien für guten Unterricht und erfolgreiche Schulen unter Berücksichtigung der von mir angesprochenen sechs Formen der Erfahrung, des Wissens, Zeigens, Fragens und Antwortens beträchtlich erweitert und zwischen didaktischen Aufgaben und Testaufgaben unterschieden wird und

(2.) Konzepte für eine pädagogisch ausgewiesene Bildungsforschung entwickelt werden, die das ausufernde Gerede über durch Erziehung zu erzeugende Kompetenzen auf jene Bereiche und Formen engführen, die zu den nicht delegierbaren Aufgaben einer öffentlichen und gemeinsamen Erziehung gehören (vgl. Benner 2007).

Auch für das dritte Thema lässt sich eine analoge Konkretion vornehmen. Religion und Bildung können dann in einen bildenden und zugleich um Aufklärung bemühten Zusammenhang treten, wenn öffentlicher Religionsunterricht sich nicht mehr als Verlängerung der religiösen Glaubenspraxis von Religionsgemeinschaften in den Raum öffentlicher Erziehung, sondern als Einführung in religiöse Denkformen und Praktiken versteht. Diese folgen nach Schleiermacher einer im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit vom Absoluten begründeten Logik, die für sich – wie andere Handlungslogiken auch – weder irgendwelche legitimen Universalitätsansprüche erheben kann noch Kollisionen mit anderen Denkformen und Handlungslogiken vermeiden oder leugnen muss (vgl. Benner/Krause/Nikolova u. a. 2007).

Die Kompetenzen, die öffentliche Erziehung in allen drei von Jürgen Oelkers angesprochenen Problemfeldern stärken muss, lassen sich nicht nach Selbst- und Sozial- sowie Sach- und Methodenkompetenzen ordnen (vgl. Oelkers 2003, S. 113f.) und durch Schulprogramme und Lehrpläne normieren, sondern verlangen nach einer Ordnung, die mit den Aufgaben und Möglichkeiten moderner Erziehung und Bildung in öffentlichen Institutionen abgestimmt ist. Zu diesen gehört, dass erziehender Unterricht in allen Fächern und Lernbereichen in die genannten sechs Formen der Erfahrung und des Wissens einführt. Zu ihnen gehört ebenso, dass Erziehung bei den Heranwachsenden eine Partizipationskompetenz entwickelt und stärkt, die diese zum Übergang in die ausdifferenzierten Bereiche intergenerationellen Handelns befähigt und ihnen die Teilnahme am ökonomischen, moralischen, politischen, ästhetischen und religiösen sowie nicht zuletzt auch am pädagogischen Handeln ermöglicht.

 

4. Ausblick

Justiert man die diskutierten Fragen in der vorgeschlagenen Art und Weise, braucht man um die Zukunft der Allgemeinen Pädagogik und der Erziehungswissenschaft nicht besorgt zu sein. Vergleichbares gilt freilich nicht für die Sicherung der natürlichen, gesellschaftlichen und professionellen Voraussetzungen von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die mir jenseits der gegenwärtig diskutierten Katastrophenszenarien gefährdet zu sein scheinen. Hierzu findet sich im Dritten Buch der Allgemeinen Pädagogik von Herbart die folgende Aussage, die an Ausführungen anschließt, in denen Herbart darauf hingewiesen hat, dass unter modernen Bedingungen eine Rückkehr in die frühere Einheit von Leben und Lernen nur um den Preis möglich wäre, dass die Geisteskrankheit, alles nur um des von einer Handlung zu erwartenden Gewinns wegen zu tun, weiter um sich greife:

[D]as eigentlich härtende Prinzip für den Menschen [wird man] nicht eher finden ..., als bis man eine Lebensart für die Jugend einrichten lernt, wobei sie nach eigenem, und zwar nach eigenem richtigen Sinn eine in ihren Augen ernste Wirksamkeit betreiben kann. Sehr viel würde dazu eine gewisse Öffentlichkeit des Lebens beitragen. Aber diejenigen öffentlichen Akte, welche bisher gewöhnlich sind, dürften die Kritik schlecht bestehen. Denn es fehlt ihnen meistens das erste Erfordernis eines charakterbildenden Handelns; sie geschehen nicht aus eigenem Sinn, sie sind nicht die Tat, durch welche das innere Begehren sich als Wille entscheidet. Man bedenke unsere Examina durch alle Schulklassen von unten an bis hinauf zur Doktor-Disputation! ...

Fragt man mich, was denn für bessere Übungen statt jener zu empfehlen wären, so gestehe ich, die Antwort schuldig zu bleiben. Ich glaube nicht, daß in unserer jetzigen Welt bedeutende allgemeine Einrichtungen, um die Jugend zweckmäßig in Handlung zu setzen, getroffen werden können ... . Übrigens weist alles dies auf den früheren Satz zurück: der Hauptsitz der Charakterbildung sei die Bildung des Gedankenkreises. Denn erstlich: man darf diejenigen nicht nach eigenem Sinne handeln lassen, welche kein richtiges Begehren in Handlung zu setzen haben, sie würden dadurch nur Fortschritte im Schlechten machen; vielmehr besteht hier die Kunst im Zurückhalten! Zweitens: hat man den Gedankenkreis so vollkommen gebildet, daß ein reiner Geschmack das Handeln in der Phantasie durchaus beherrscht, alsdann fällt die Sorge wegen der Charakterbildung mitten im Leben beinahe gänzlich weg; der Entlassene wird sich die Gelegenheiten zum äußeren Handeln so wählen oder die, welche sich aufdringen, so behandeln, daß das Rechte sich in seinem Busen nur befestigen kann.“ (Herbart 1806/1965, S. 118f.)

Die hier von Herbart zunächst mit Blick auf gesellschaftspädagogische Transformationen problematisierte und dann mit Verweis auf die Spielräume eines erziehenden Unterrichts sogleich wieder bekräftigte Zuversicht in die Reichweite didaktischer Transformationen können wir heute so nicht mehr teilen. Didaktische und gesellschaftspädagogische Transformationen verlangen nach einer gleichgewichtigen Beachtung und Anerkennung. Hierzu gehört die Sorge, dass das keineswegs auf Religion begrenzte, sondern auch die Bereiche der Arbeit, der ­Aushandlung moralischer Regeln und der politischen Partizipation umfassende „kulturelle Gedächtnis“ (vgl. Assmann 2000) lebendig gehalten wird, eine Sorge, welche die Pädagogik nicht stellvertretend für die anderen Praxisbereiche wahrnehmen kann (vgl. Benner 2004c). Aber auch das gehört zu den problematischen Sachverhalten, die es durch Erziehung und Aufklärung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben gilt.

 

 


 

1 Der Beitrag wurde Jürgen Oelkers zum 60. Geburtstag gewidmet und als Koreferat zu einem Text von Klaus Prange (2007) auf der 3. Tagung der Internationalen Herbart-Gesellschaft vorgetragen, die vom 02. bis 05. Mai 2007 und unter dem Thema: „In welche Zukunft schaut die Pädagogik?“, in der Franckeschen Stiftung an der Universität Halle stattfand.

2 Hyllas Fehlübersetzung von „platicity“ mit „Bildsamkeit“ in Dewey 1916/1964, S. 68, sollte in einer überfälligen Neuübertsetzung korrigiert werden.

3 Zur Bedeutung negativer Erfahrung für Lern- und Lehr-Lern-Prozesse bei Dewey siehe English 2005a.

4 Zur Aktualisierung dieser Systematik siehe Benner 2005, S. 207-302.

5 Siehe hierzu ausführlicher die in Vorbereitung begriffene Neuauflage von Benner 62009.

6 Siehe hierzu Meyer-Drawe 1986; Mitgutsch 2003; Ben­ner/English 2004.

7 Vgl. Hierzu die Anouihl-Aufgabe für Beleuchtungstechniker oder die Stockaufgabe aus der Fernsehsendung „PISA das Nationenspiel“; siehe hierzu Lühmann 2003; Benner 2007.

 

 

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    TOPOLOGIK.net   ISSN: 1828-5929

Collana di Studi Internazionali di

Scienze Filosofiche e Pedagogiche

N° 4/2008